Ein Rückblick auf sieben Jahre Siemens-CEO
Wer eine Eloge auf den Abschied-nehmenden CEO lesen möchte, nimmt am besten mit dem Buch „Zukunft gestalten - Die Siemens-Unternehmer (1847-2018)“ vorlieb; es könnte von Joe Kaeser (himself) stammen. Nun geht es um eine andere Erzählung.
Am 1. August 2013 löste er Peter Löscher, den ersten extern rekrutierten, fremdelnden Vorstandsvorsitzenden ab, der Siemens durch den Korruptionsskandal manövrierte, doch wenige geschäftliche Impulse setzte. Die Laufbahn von Joe Kaeser hatte ihren Anfang im Halbleitergeschäft in Regensburg, führte nach Kalifornien, dann zur Zentralabteilung Finanzen, er rückte zum Bereichsvorstand von IC Mobile (ICM) auf, wurde 2004 Strategiechef unter dem amerikanisierten Kurzzeit-CEO Klaus Kleinfeld, mit dem er bis heute im High Five-Stil verbunden blieb. 2006 war er Nachfolger des wegen Korruptionsvorwürfen zurückgetretenen Finanzchefs Heinz-Joachim Neubürger und erarbeitete sich bei Analysten einen guten Ruf. Die zur Schau getragene Loyalität Löscher gegenüber verflüchtigte sich. In einem Power Play unter dem ambivalenten Juristen und Aufsichtsratsvorsitzenden Gerhard Cromme war Joe Kaeser die allernächste Alternative. Ihm wird nachgesagt, dass er zum richtigen Moment stets zur Stelle und im falschen bereits weg war.
Das Amt trat Joe Kaeser mit dem Versprechen an: „Höchste Priorität ist nicht ein weiteres Restrukturierungsprogramm, sondern die Beruhigung des Unternehmens und die Stabilisierung der inneren Ordnung“. Die Euphorie war groß, dass einer mit 33 Jahren Stallgeruch und großer Hausmacht das Steuer übernimmt.
Ermutigende Ankündigungen
Vision 2020 (von 2014) sollte zum neuen Leitstern am Siemens-Firmament werden. „Eine starke Mission, gelebte Eigentümerkultur, konsequente Strategie“ waren die Hauptpunkte des anstehenden Wandels. Elektrifizierung, Automatisierung und Digitalisierung sollten danach zusammengeführt in viele zukunftsträchtige Anwendungsbereiche eingehen. Konkret wurden acht Ziele genannt, darunter ‚Partner der Wahl für Kunden‘ und ‚Arbeitgeber der Wahl‘ sein, den Net Promotor Score um 20 Prozent, also die Kundenzufriedenheit, verbessern und die Anzahl der Mitarbeiteraktionäre um mehr als 50 Prozent anheben. Der Plan des Wandels war eng getaktet.
Von allen Seiten begrüßt wurde die Eigentümerkultur, das „verpflichtende Eigentum“ als zentrales Element. Die Kräfte des Einzelnen sollen freigesetzt und dem Imperativ „Handle stets so, als wäre es dein Unternehmen“ folgend wirksam werden. In der Aufbruchsstimmung war laut einer Führungskräftebefragung der größte Teil bereit, „die Extrameile“ zu gehen. Zu einem neuen großen Versprechen wurde Nachhaltigkeit. Siemens sollte ab 2025 Carbon-neutral sein.
Gebrochene Versprechungen und manageristische Praktiken
Statt Ruhe kehrte mit der größten Umorganisation seit einem Vierteljahrhundert permanentes Umorganisieren ein. Die vordem komplexe Organisation wurde aufgelöst: aus vier Sektoren und 16 Divisionen wurden nunmehr neun Divisionen, zwei Ebenen wurden herausgenommen, die über Jahrzehnte aufgebauten Landesorganisationen, die kompetente Siemens-Repräsentation in einer Vielzahl von Ländern an die zentralistische Kandare genommen. Der Umbau war von einer Wachstumsschwäche begleitet, zum Teil eine mittelbare Folge. Und interne Befragungsergebnisse zur Führung fielen so unvorteilhaft aus, dass sie weitgehend unkommentiert blieben.
Der zögerlichen Ergebnisverbesserung wurde auf eine Weise nachgeholfen, die im Amerikanischen vielsagend Earnings Management bezeichnet wird: umfangreicher Verkauf von Liegenschaften und Gebäuden vor allem an den Standorten München, Erlangen und Berlin und Aufwertung von Vorhalteflächen. Diese Transaktionen liefen weitgehend unbemerkt und gut getimed zu den in Aussicht gestellten Ergebnissen. Gebäude wurden zurück geleast. Die ergebniswirksame Behandlung des Goodwill aus Käufen und Verselbständigungen ist ein weiterer bedenkenswerter Umstand. Eine bis dahin nur in den USA übliche Methode der Kurspflege waren Aktienrückkäufe. Zwischen 2016-2021 wurden in zwei Abschnitten jeweils drei Mrd. Euro eingesetzt. Auch dieser Vorgang wurde wenig bekannt, zudem mit dem Mitarbeiteraktienprogramm begründet, wiewohl der größte Nutzen bei der Leitung und den Aktionären lag.
Dagegen groß aufgemacht wurden die 2017 auf den Weg gebrachten Innovationsinitiativen. Im Deutschen Museum wurde die Innovation AG aus der Taufe gehoben. Ihr Zweck war eine ‚Firma in der Firma‘, Brutstätte für Aus- und Neugründungen. Siemens sollte darüber hinaus mit weltweiten Venture Aktivitäten die Stärken von Startups und mit denen eines großen Players verbinden. Die Ergebnisse waren so dürftig, dass sie keine Pressemitteilungen hergaben. Wegen Unergiebigkeit wurde dann das mit Fanfaren angekündigte, internationale hochkarätige Siemens Technology & Innovation Council aufgelöst. Alles in allem verfehlten diese kostspieligen Aktionen ihren Zweck.
Bei unzähligen Interviews – vom Straubinger Tagblatt bis zu US-Business Media beeindruckte Joe Kaeser mit forschen Sprüchen aus der Welt der Business Schools und Strategieberater. Einmal war es der Purpose, der Leute morgens aufstehen und ihr Bestes geben lässt. Dann war in weiser Fremderkenntnis von “Culture eats strategy for lunch” die Rede. Immer wieder ging es um Wetten auf die Zukunft und das smarte Managen von Risiken mit Feststellungen wie „You have to hedge your bets.” Oder um sein Führungsverständnis: “Nobody is perfect, but a team can be.” Das wiederholt betonte „Wir haben geliefert” war eine fragwürdige Behauptung; bezogen auf gut kalkulierte Ergebnisprognosen aber auch nicht unzutreffend.
Auf seiner – man möchte sagen – Hidden Agenda stand prioritär die Neustrukturierung von Siemens. Den Anfang machte 2015 die Verselbständigung des Medizinbereichs zu Siemens Healthineers – ein Kunstwort nach seinem Gusto. Die Überlegung stimmte, weil dieser Bereich aus einer lange zurückliegenden Fusion mit einer eigenen Kultur hervorgegangen und mit dem anderen Geschäft wenig verwandt war. Die Bahntechnik sollte mit der von Alstom zu einem europäischen Player zusammengeführt werden. Nach Einspruch der EU-Kommission wird sie als Mobility GmbH mit Sitz in München geführt. 2020 wurde der Energiebereich (Siemens Energy) mit über 90 Tausend Mitarbeitern und hohen Altlasten an die Börse gebracht, mit Zentrale in Berlin. Die Hektik in diesem schwierigen Geschäft lässt sich in der Verlegung der Divisionsleitung unter der von Shell geholten Amerikanerin, Lisa Davis von Erlangen nach Houston und jetzt Berlin ablesen.
Schon früh in seiner Zeit deutete Joe Kaeser an, dass „man immer noch den Weg in Richtung Holding gehen“ kann, wenn er mit seinem Ansatz die Siemens-Geschäfte stärker zu integrieren nicht vorankomme. Dazu hätte es in der Tat viel Um- und Voraussicht und einen eisernen Willen gebraucht. Die Zeichen des Kapitalmarktes standen schon seit 10 Jahren auf Pure Plays. In dieser Logik stellt sich die vordergründige Frage, ob die Summe der Teile mehr wert ist als das Ganze. Für den kapitalmarktfixierten CEO war die Antwort von vorneherein klar.
Wenig beachtete Underperformance
Kapitalmarktunternehmen unterliegen einem ständigen Vergleich, vor allem bei der Entwicklung der Aktie. Die „Hightech-Aktie“ Siemens performte verglichen mit dem Dax unterdurchschnittlich. Konkurrenten wie Schneider Electric konnten in dieser Periode den Wert um das fast Zweifache und Honeywell auf das Dreifache steigern. Wäre der Siemens-Kurs ähnlich, auch unter Berücksichtigung der Portfolioänderung verlaufen, stünde er bei über 150 Euro; das stand als Kursziel im Raume. Der Siemens-Chef war dennoch ostentativ stolz, hatte sich die ABB nur mäßig entwickelt und der von Analysten und Medien bis zuletzt gehypte Erzrivale GE war auf bis zu zehn-zwanzig Prozent des Allzeithochs abgestürzt; waren bis dato Teil der für die Managementvergütung herangezogenen Vergleichsfirmen. Das Spiel lief nach dem Muster: Man vergleiche sich immer mit dem, das am vorteilhaftesten ist. Joe Kaeser war darin Meister.
Ein guter Anhaltspunkt für die Wertschätzung eines Unternehmens ist die Rangfolge der Marke eines Unternehmens. Unter den deutschen Unternehmen lag Siemens 2014 an sechster und 2019 an achter Stelle; gefolgt von Bosch, das 2014 noch an 14. Stelle gelegen war. An der Spitze steht SAP, weltweit auf Rang 16, Siemens bei 92. In den letzten 10 Jahren erhielt der Maßstab ‚Arbeitgeber der Wahl‘ zunehmende Beachtung. Siemens erscheint danach nicht mehr unter den ersten Zehn deutscher Unternehmen. Auf den vorderen Plätzen stehen 2020 Porsche, Bosch, SAP, der Siemens Spin-off Infineon und Siemens Healthineers. Ein wenig angestellter Vergleich ist der mit Bosch. Das Stiftungs- und Ingenieurunternehmen hat in den letzten zwanzig Jahren gegenüber Siemens bei wichtigen Kenngrößen wie Patenten stetig an Boden gewonnen, obwohl es aufgrund der traditionellen Automobillastigkeit ungünstigere Voraussetzungen hat.
Alleinherrscher mit Widersprüchen
Insidern bleibt es ein Rätsel, dass und wie Joe Kaeser als einziger Vorstand des Com-Bereiches den Korruptionsskandal überstanden hat. Ihm werden in der Tat höchste Geschicklichkeit und Teflonqualität zugeschrieben. Den Kollegen Lothar Pauly aus der Kommunikationssparte ereilte das Schicksal des Rücktritts als Vorstand von T-Systems noch.
Schon kurz nach seiner Installation als Vorstandsvorsitzender nach deutschem Aktienrecht wuchs er zum uneingeschränkten CEO amerikanischer Prägung, mit dem Nimbus „Der Kaiser von Siemens“ oder in eigenen Worten: „It goes my way or no way.“ Die Wandlung bekamen die Vorstände Michael Süß und Hermann Requardt, später der potentielle Konkurrent, Siegfried Russwurm, zu spüren; allesamt ausgewiesene Techniker. Diese wurden verabschiedet und es verabschiedeten sich Gefolgsleute des Vorgängers unter Mitnahme ungewöhnlich großzügiger Abfindungen. Noch eine Anmerkung: Konzernaufseher Cromme hatte zuvor den allseits angesehenen Heinrich Hiesinger zu Thyssen-Krupp geholt und den erfolgsarmen Olaf Berlien zu Osram vermittelt.
Ein Kaeser-Spezifikum sind byzantinische Verhältnisse rund um den CEO. Der sogenannte Corporate Core, umgangssprachlich Küchenkabinett, aus engsten Vertrauten/“-innen“ bildete bei Siemens fortan das Machtzentrum. Der Zugang zum Chef und manches mehr wurde lange Zeit von Mariel von Schumann, der mächtigsten Frau im Konzern, gehütet. Der Ex-Beraterin - und wieder als solche tätige Janina Kugel wurde die phänomenale Karriere zur Personal-“vorständin“ zuteil. Für die Medien wurde sie zur Ikone der Diversität und nicht nur für die Arbeitnehmerseite zum Exemplar fehlender Akzeptanz. Die Reihe von außen angeheuerten Karrierefrauen ist lang: Kommunikationschefin Clarissa Haller von ABB, Cyber Security-Verantwortliche und Diversity Managerin Natalia Oropeza von VW, Leiterin Global Government Affairs, Eva Schulz-Kamm (NXP-Semiconductors) und weitere. Unter den börsennotierten Unternehmen wurde ausgerechnet Siemens zur Referenz für Gender-Inequality zugunsten meist unternehmensfremder Managerinnen. Diversity endete nicht selten in einem vorzeitigen, teuren Abgang. Siemens-Insidern fiel ein besonderes Beziehungsmuster auf.
Die Verwandlung vom umgänglichen Finanzvorstand zum Konzernherren ist vielen Siemensianern in Erinnerung. Joe Kaeser entdeckte mehr und mehr seine Fähigkeit zum Dozieren und ließ Führungskräfte den höheren Grad an Informiertheit und Einsicht spüren. Der wiederholte Aufruf des Unternehmenschefs zum offenen Dialog wurde geflissentlich überhört, nachdem das „Speak up-head off“ die Runde machte. Das Verhältnis zur Arbeitnehmerseite, auch zu den Leitenden, war allein von politischer Zweckmäßigkeit bestimmt, die auch Gefälligkeiten einschloss. Das Kapitalmarktinteresse hatte immer Vorrang. So gerne Joe Kaeser sich vor dem Portrait Werner von Siemens postierte, so wenig war ihm an der Pflege des Erbes von Siemens gelegen. Das Siemens Historical Institute wurde zum verwaisten Archiv.
Mit Nachdruck vertrat der CEO die Überzeugung, dass „die Gesellschaft die Personifizierung von Verantwortung fordert“. Damit geriet er in Konflikt, sobald er für eigene Entscheidungen einstehen sollte. Der bekannteste Fall war die größte Firmenübernahme der Siemens-Geschichte, die von Dresser-Rand. Der von Private Equity (PE) zusammengebastelte und zum schnellen Verkauf herausgeputzte texanische Hersteller von Kompressoren in Texas trug mit drei Prozent zum Siemens-Umsatz bei, der Kaufpreis machte indes 7,6 Prozent der Siemens-Kapitalisierung aus. Dass einem gewieften Kenner der US-PE-Branche ein solcher Fehlkauf unterlaufen konnte – Warnungen gab es – , hatte wohl mit einer missglückte Revanche an GE zu tun, dem Käufer des Alstom-Energiegeschäftes, bei dem Siemens mitgeboten hatte. Der kapitale Schaden aus der Transaktion wurde bis zur Unkenntlichkeit verschleiert. Die von ihm gerne vorgetragene Haltung „Eine bescheidene Ehrlichkeit steht uns gut an“ war wieder mal außer Kraft gesetzt.
Joe Kaeser war der allgegenwärtigste Chef des Hauses Siemens. Vertragsunterzeichnungen liefen fast ausnahmslos mit ihm und ohne andere. Gegenüber den Großen der Politik, namentlich Trump und Putin gab er sich mehr als entgegenkommend. Zu seiner Vergütung hüllte er sich in Schweigen, wenn es um die Bemühung des Wir („Dear Collegues“) ging, war er recht gesprächig und fordernd. Der vertraglich fällige, von ihm von Mutmaßungen begleitete Übergang auf den Nachfolger Roland Busch hatte Züge einer Ranküne. Die Quasi-Selbstbestellung zum Aufsichtsratsvorsitzenden von Siemens-Energy führte zu einem personellen Eklat. Das eingesetzte Führungsduo trat nicht an. Der Vorgang zeugte von einem Mangel an gegenseitigem Respekt – „Culture of mutual respect“ war eine von ihm häufig gebrauchte Losung – und stand in Widerspruch zu dem, was der Deutsche Corporate Governance Kodex vorschreibt. Seine Unersetzbarkeit als CEO formulierte er so: „Schaffe meinen Job mit der Abspaltung von Energy ab; Das Siemens von heute wird es dann nicht mehr geben und damit auch nicht die Arbeitsinhalte des heutigen Vorsitzenden.“ Das war eine typische Aufwertung seiner Person verbunden mit einer Abwertung.
Twitterei und politische Aspirationen
Im Offside war Joe Kaeser bodenständiger Niederbayer. Da hielt er es mit der lokalen Feuerwehr, spendete an viele Vereine, hatte stets ein offenes Ohr für regionale Belange und manche Anliegen früherer Kollegen. In einer noblen Geste nahm er am Begräbnis des Personalchefs teil, der ihn 1980 eingestellt hatte. Von seinem Kauf eines „Bergs“ und der Tätigkeit als erdverbundener Waldpfleger ließ er nicht wenige wissen. Eine gewisse Sparsamkeit ließ er auch verspüren als 2016 das mondäne Headquarter am Wittelsbacherplatz eingeweiht wurde, das dem schon geschwächten, rheinisch-imperialen Aufsichtsratsvorsitzenden Cromme gefiel - ihm seh- und hörbar nicht.
Eine ganz andere Welt war die politische Bühne. Er war verlässlicher Reisebegleiter der Bundeskanzlerin nach China und anderswo, immer präsent bei präsidentiellen Anlässen. Als Spitzenverdiener fühlte er sich wie kein anderer CEO berufen, über „inklusiven Kapitalismus“ zu sinnieren, vor sozialer Spaltung zu warnen und mehr Fairness zu verlangen. Obendrein übte er heftige Kritik an der Energiewende, die von wenig volkswirtschaftlicher Vernunft zeuge. Aufsehen und viele Schlagzeilen brachten seine Tweets zu Seenotrettung, Rassismus, AfD, Bundestagswahlen („Das ist auch eine Niederlage der Eliten in Deutschland.“) und für eine gesetzliche Frauenquote im Vorstand. Die Fridays for Future-Proteste brachten ihn bekanntlich in große mediale Bedrängnis.
Manche erkannten in dieser Bemühung um Profilierung eine gezielte Vorbereitung auf ein Spitzenamt/-mandat in Berlin, eines wie es der Ex-Siemensianer Russwurm als BDI-Präsident hat.
Leistung und Hinterlassenschaft
Zweifelsfrei hat Joe Kaeser Siemens mehr verändert als seine Vorgänger. Die Veränderung war kapitalmarktgefällig und dessen Anforderungen antizipierend, wenn man das Treiben der aktivistischen Investoren in Betracht zieht. In äußerst knapper Form war die Agenda folgende: mehr Transaktion als Innovation, eher Abschöpfung als Robustheit (Werte schaffen, nicht Reserven auflösen, Wertvolles verkaufen, um besser zu scheinen; Ankeraktionäre bilden), eher wetten und waghalsige Akquisitionen als unternehmerisch handeln. Die teilweise Auflösung der Marke Siemens war Teil davon.
Für den größten europäischen Technologie- und Infrastrukturkonzern fehlten dem Betriebswirt das notwendige Verständnis für technische Zusammenhänge und unternehmerische Voraussicht. Anfänglich beklagte er: „Wir verschliefen einen Paradigmenwechsel. Wir verrieten damals das Erbe von Werner von Siemens, Innovationen gegenüber aufgeschlossen zu sein. So ein Fehler darf uns nie wieder passieren.“ „Wir waren überheblich“ – und sagte voraus, dass ihm keine großen Versäumnisse unterlaufen werden. Dabei bezog er sich auf den häufig zitierten Fall Cisco. Zum Schluss seiner Regentschaft ist die Frage überfällig: Wie verhält es sich mit der Unterschätzung dezentraler Energielösungen oder bei der für das Siemens-Geschäft bedeutsamen Cloud-Technologie? Warum ging von Siemens keine Initiative zu einer europäischen Cloud-Lösung aus? Die einstmals gerühmte erfinderische Zentrale Forschung und Entwicklung (CT) entwickelte sich mehr und mehr zu einer Innovationsagentur und Einheit für Auftragsentwicklung. Die Welt der Technik war nie seine. Das Ingenuity for Life sollte ein mondänes Bekenntnis zu technischer Führung sein; es blieb ein Nuschelwort.
Am Vorabend der Amtsübernahme erklärte Joe Kaeser selbstgewiss: „Ich will, dass unsere Mitarbeiter und unser Land wieder so stolz sein können, wie ich es immer gewesen bin.“ Wenn es einen Anlass zu (falschem) Stolz gibt, dann den, dass - abgesehen von Infineon - voraussichtlich drei Siemens-Gesellschaften in Zukunft im Dax gelistet sein werden.
Manfred Hoefle, Januar 2021
Hinweis: Zitate sind sorgfältig wiedergegeben, recherchierbar. Beiträge insbesondere zur jüngsten Geschichte von Siemens sind unter www.managerismus.com abrufbar