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Gute Unternehmensführung
Denkzettel Nr. 63
17.08.2020

Helmut O. Maucher (1927-2018) - Verantwortungsvoller Unternehmensführer

von Manfred Hoefle

 

 

„If the common sense would be more common, the world would be wonderful” war eine Quintessenz aus 19 Jahren an der Spitze von Nestlé. In dieser Wunschvorstelllung kam die bodenständige, mittelständische Prägung Helmut Mauchers durch: menschlich, pragmatisch, solide, vernünftig. Im großartigen “Management-Brevier“ – so genannt nach dem Stundenbuch katholischer Priester - ging es ihm um Substanz und das hochkomprimiert – ganz im Unterschied zu den unzähligen flachen Rezeptbüchern für wirtschaftlichen Erfolg.

Zum Manager-Unternehmer geboren

Helmut Maucher wuchs in einem 1000-Seelendorf im württembergischen Allgäu auf. In der Sennerei fing sein Berufsleben an, setzte sich fort an die Leitung des Deutschlandgeschäfts (1975-80). Als erster Nichtschweizer übernahm er die Leitung von Nestlé S.A. in Vevey (Delegierter des Verwaltungsrates und Präsident). Erst mit 72 Jahren nahm er als Ehrenvorsitzender Abschied vom Unternehmen – und bekannte, dass er „immer gut geschlafen“ habe. Bereits mit 20 Jahren habe er den inneren Kompass gefunden und konnte sich gut vorstellen, eines Tages Landrat in seiner Heimat zu werden. Nun, es kam ganz anders, es ging immer weiter weg und fort auf Reisen um die ganze Welt.

Er wusste um seine natürliche Autorität. Ich habe „immer geführt und entschieden.“ Sein Selbstverständnis war, die richtige Kombination von Leader und Manager zu finden (nach dem von ihm zitierten Managementlehrer Peter Drucker: „Leaders do the right thing and managers do the things right“. Maucher gab sich stets direkt, ermunterte schon mal Kommunalpolitiker, „Wenn ihr ein Problem habt, kommt zu mir“; er hatte keine Assistenten, legte Wert auf Einzelgespräche, erwartete nicht nur Zustimmung, sondern Gegenargumente, nahm Standorte sorgfältig in Augenschein, kümmerte sich auch ums Detail, ließ sich nichts vormachen. Credo und Praxis waren ihm eins: „Be close to your products, to your people, to your customers”. Das ist immer richtig.

Ein wirklich globales Unternehmen

Nestlé wurde unter der Führung von Maucher zum größten Nahrungsmittelkonzern der Welt. Das gelang neben dem konsequenten Ausbau des Kerngeschäftes Getränke und Milchprodukte mit Akquisitionen vor allem in den USA und einer vorausschauenden Diversifizierung in Nutrition und Gesundheitsprodukte, Fertiggerichte, Süßwaren, Eis, Tiernahrung und Mineralwasser. Der Name der 1866 von dem deutschen Apotheker Heinrich Nestle (später Henri Nestlé) gegründeten Firma bedeutet im Schwäbischen ‚kleines Nest‘, womit der Bezug zum Erstprodukt Kindermehl (Farine lacteé) gemeint war. Produktqualität, Innovation, und eine starke Marke blieben die Pfeiler des Geschäfts. Nestlé wurde zum exemplarischen Fall eines weltumspannenden Unternehmens, das lokal agiert und sich lokal engagiert. In seiner langen Geschichte hat das Unternehmen die schiere Zahl von rund 2000 Einzelmarken angesammelt, die mit einer klugen Markenpolitik zu Corporate- und Familienmarken zusammengefasst oder als Einzelmarken belassen wurden.

Offensiv gegen Übertreibungen

Der Management-Mainstream war für Helmut Maucher nie maßgebend, vielmehr Anlass, Auswüchsen den Kampf anzusagen und Fehlentwicklungen aus dem Wege zu gehen. Zu diesen zählte er an erster Stelle die von den USA sich ausbreitende Kurzfristigkeit in der Unternehmensführung. Am unmittelbarsten zeigt sie sich in der Quartalsberichterstattung. Aus dieser Erwägung vermied er im Unterschied zu so manchen DAX30-Chefs die in Mode gekommene, später bereute Aktienplatzierung an der New York Stock Exchange. Dem Grundgedanken des Shareholder Value stand er aufgeschlossen gegenüber. Doch das Sharetrading, das ständige Schielen auf die Kurse und den schnellen Aktienhandel war für ihn eine Verirrung. Seine Überzeugung brachte Maucher auf einer Bankentagung so auf den Punkt: „And above all, I do hope that we all share in our lives more values than just the share value.”

Überzogene Managementbezüge blieben ein gewichtiger Kritikpunkt. Für einen CEO sei das mehr als das Hundertfache eines einfachen Arbeiters definitiv nicht akzeptabel. Er verwies auf die fragwürdige Signalwirkung für die betriebliche Gemeinschaft und machte auf die Folgen der nachlassenden Akzeptanz der Marktwirtschaft aufmerksam. Für eine Leitung gehe es nicht an, Sparappelle auszugeben, sich aber davon auszunehmen. Dennoch wollte er keine gesetzlichen Regelungen, sondern eine Übereinkunft von Aufsichtsrat und Aktionären.

Klare Einstellung – Grundsätze der Führung

Für Helmut Maucher war stets der „Mind“ wichtig, weil daraus ein entsprechendes Verhalten folgt. Regeln können eine Einstellung - man denke an ein bestimmtes Mitarbeiterbild - nur bedingt ersetzen. Er war auch überzeugt, dass gerade ein diversifiziertes und kulturell vielfältiges Unternehmen eine allen Mitarbeitern bekannte und verbindliche Systematik in der Führung braucht. Dazu wurden die „Management- und Führungsprinzipien von Nestlé“ erarbeitet.

An erster Stelle der allgemeinen Grundätze steht: „Nestlé richtet sich mehr auf Menschen und Produkte aus als auf Systeme.“ Der Tone from the Top war damit angeschlagen. Beispielsweise sollten –soweit es die Geschäftslage zulässt – notwendige Personalanpassungen gestreckt und bei Besetzungen fallweise Übergänge ermöglicht werden.

Als nächster Grundsatz folgt der Auftrag, für die Aktionäre eine langfristige Wertmehrung zu erzielen, keinesfalls eine kurzfristige Maximierung. Maucher wies wiederholt darauf hin, dass eine langfristige Sicht in aller Regel die ethische Komponente einschließt. Falsches, unethisches Verhalten eines raschen Vorteils wegen bringe Unternehmen in Probleme, treibe sie nicht selten in den Ruin. Als organisatorisches Prinzip wird ein „möglichst großes Maß an Dezentralisierung“ gefordert, soweit sich diese mit einer konzernweiten Koordination und Managemententwicklung verträgt. Desweiteren ist eine kontinuierliche Verbesserung gefordert, um nicht zu großen Änderungen gezwungen zu sein und abrupten Entwicklungen vorzubeugen.

Großen Wert legte der Chef auf ein gutes Auftreten seiner Leute. Sein Appell war: „(Die) Mitarbeiter von Nestlé geben nicht an“, aber sie haben Stil. Eitelkeit galt als deplatziert. Die wichtigsten Eigenschaften einer Führungsperson fasste er zusammen zu: „viel Herz und viel Verstand; Mens sana in corpore sano, Tue recht und scheue niemand“. Die Führungsgrundsätze sind ausdrücklich von der abwägenden Art eines ‚So, aber stets mit Maß‘.

Solide Unternehmensführung als Programm Raffinierte Theorien, smarte Beraterkonzepte und Management-Sprech stießen bei Maucher auf Unverständnis. Aus Erfahrung gewonnene Intuition und gesunder Menschenverstand waren gefragt. Robuste Lösungen hatten Vorrang.

Planung, zumal sie zu sehr auf Zahlen setzte und die Zukunft in den Griff nehmen wollte, statt die Annahmen sorgsam zu prüfen, hielt er im Großen und Ganzen für entbehrlich. Systeme sollten befreien und Bürokratie verhindern helfen. Geboten war, wie er zu sagen pflegte: „more pepper, less paper“ und an die Adresse der Personalabteilung: „look in their eyes, not in their files.“ Bei der Personalauswahl schaute er auf Intelligenz und Charakter.

Im Folgenden sind in großer Kürze und nicht vollständig die Grundüberlegungen angeführt, die seine „Führungskunst“ ausmachen.

Personalpolitik:

  • „Frage nie, was Nestlé für dich tun kann, sondern was du für Nestlé tun kannst.“
  • Mehr Zuwendung zu den Leuten und weniger Bürokratie mit Leuten
  • Andauernde Beschäftigung mit den Leuten; darum keine Assessment-Centers
  • Maßvolle Rotation, um Bewährung zu ermöglichen und Erfahrung zu sammeln
  • Klarheit über Funktion und Einordnung des Einzelnen im Unternehmen schaffen
  • Fluktuation vor allem von Führungspersonal auf den Grund gehen und entgegenwirken
  • Verzicht auf Mode-/PR-Aktionen: z.B. öffentlichkeitswirksam Sozialdienst leisten

Governance und Organisation:

  • Der Verwaltungsrat soll sich vor allem für die langfristige Entwicklung des Unternehmens verwenden. Entscheidend sind die Besetzung mit ‚ Qualität‘, nicht gesetzliche Regelungen und Quoten.
  • Unternehmensleitung soll als „Team mit Spitze“ agieren und nicht als Kollegium, One-man Show oder Doppelspitze.
  • Große Führungsspannen sollen Selbstbeschäftigung verhindern.
  • Häufiges Reorganisieren ist schädlich.
  • Die Organisation soll nach Bedarf durch Projektlösungen, Centers of Excellence“ aufgelockert werden.
  • Die Zentrale soll schlank, aber fit sein.

Finanzpolitik:

  • Das Verhältnis Kapitalrentabilität und Sicherheit muss sorgsam beachtet werden, weil es die ständige Versuchung zum „Leveraging“ gibt.
  • Die Kapitalmarktbeziehung muss ständig gepflegt werden, aber ungebührlichen Forderungen muss auch standgehalten werden.
  • Die häufigen Änderungen der Rechnungslegung (z.B. Good will) und der Berichterstattung führen zu einer unnötigen Verkomplizierung.

Innovation und FuE:

  • Selbstzufriedenheit und mangelnde Neugierde sind Feinde von Innovation.
  • Gutes Management ist die beste Zukunftssicherung
  • Innovation muss überall ansetzen, nicht nur bei Produkten. Eine wechselseitige Befruchtung des ganzen Unternehmens ist in Gang zu halten.
  • Querdenker und Ventures sollten als Katalysatoren eingesetzt werden.

Grundsätzlicher Natur ist die Entscheidung Diversifikation versus Konzentration. Unternehmer gestalten, erweitern aufgrund der Kenntnisse der Stärken das bisherige Geschäft. Diese Richtung benötigt Zeit und Durchhaltevermögen, was der Kapitalmarkt in aller Regel negativ beurteilt. Manager dagegen betreiben bei diversifizierten Unternehmen im Allgemeinen die Konzentration, die leichter und rascher machbar ist, was die Analysten honorieren. Maucher hat überwiegend den unternehmerischen Weg gewählt und Nestlé zu einem breit aufgestellten Konzern geformt. In jüngster Zeit setzt unter dem Diktat des Kapitalmarktes eine gewisse Bereinigung ein.

Gesellschaftliche Verantwortung ernst genommen

Helmut Maucher plädierte stets für eine gesunde Mischung von Eigeninteresse und Engagement für die Gemeinschaft. Das lebte er vor als Präsident der Internationalen Handelskammer und als Gründungsmitglied und Vorsitzender des ERT (European Round Table of Industrialists).

Kritik übte er an den überhand nehmenden Einzelfallregelungen, die wiederum viel zu viele Vorschriften nach sich ziehen und in der Folge mehr Bürokratie erzeugen. Den Abbau von Regulierungen hielt er für zwingend notwendig. Die strukturelle Lösung ist Subsidiarität, die Gleichmacherei und Zentralismus unterbindet.

Dazu kommt seine Forderung nach Flexibilisierung in vielen staatlichen Belangen: im deutschen Arbeitsrecht generell, im Speziellen bei den Altersgrenzen und der Arbeitszeit. In der deutschen Mitbestimmung sah Maucher einen Standortnachteil, der jedoch politisch außer Diskussion gestellt wird, trotzdem sei die Paritätische Mitbestimmung ein deutscher Sonderweg ohne nachweisbare Vorteile. Die Besserstellung bestimmter Gruppen von Beschäftigten und Funktionären ist zumal in einem international tätigen Unternehmen schwer vertretbar.

Ein mahnendes Vermächtnis

Helmut Maucher war ein glaubwürdiger Vertreter von Sekundärtugenden in Unternehmen und Gesellschaft. Zu diesen, auch bürgerlich genannten Tugenden, zählen Fleiß, Loyalität, Disziplin, Zuverlässigkeit, Identifikation, Höflichkeit und weitere für das gute Zusammenleben und -arbeiten unverzichtbare Eigenschaften. Eine Äußerung, die es verdient, in dauernder Erinnerung gehalten zu werden, war: „Ich fordere Anständigkeit.“ Im Nachhinein von 1968 kam seine Grundeinstellung nicht wenigen altmodisch vor. Aus Erfahrung als Chef eines in sensiblen Märkten tätigen Weltunternehmens schätzte Maucher den universalen Wert dieser Tugenden. Zu jeder Zeit war er ein inständiger Kritiker eines lauen Zeitgeistes und warnte eindringlich vor dem Aufkommen einer „zynischen, wertneutralen Elite“.

Daran anschließend kritisierte er das vom Staat und den meisten Volksvertretern gehätschelte Bedürfnis nach Sicherheit, das seine Befriedigung im „Vollkasko-Staat“ erhält. Von ihm drastisch ausgedrückt: „Dieses Denken trägt dazu bei, dass wir langsam degenerieren – und zugleich immer mehr Kosten produzieren.“ Die Legitimation des Staates über mehr und mehr Regulierung und Eingriffe waren für ihn eine Sackgasse mit der Beschilderung: „Sozialismus im neuen Kleide“.

Den geborenen Optimisten Maucher befielen in den späten Jahren immer öfter Zweifel, ob „der Mensch sich da mental ändert“. Was kann dagegen unternommen werden? Mehr Eigenverantwortung und größere Selbständigkeit, denn sie sind der Humus jeden blühenden Gemeinwesens und für die Entfaltung persönlicher Stärken unersetzlich.

Unternehmer haben nach Helmut Maucher eine wichtige werte- und wertschöpfende Aufgabe. Die jüngere Wirtschaftsgeschichte brachte, vor allem in der westlichen Welt, den Typus des egozentrischen, vom Kapitalmarkt geleiteten CEO hervor und ließ eine manageristische Form der Unternehmensführung entstehen. Dass die Akzeptanz der Marktwirtschaft darunter leidet und die Bindungskraft von Unternehmen besorgniserregend nachließ, ist nicht in Abrede zu stellen. Doch was heißt das? Nichts weniger als die Rückbesinnung auf eine Unternehmensführung, wie er sie vormachte.

Manfred Hoefle, August 2020

 

Helmut Maucher: Management-Brevier. Ein Leitfaden für den unternehmerischen Erfolg; Campus, 2007.