Michael (Miháel) Polanyi, geboren 1891 in Budapest, gestorben 1976 in Northampton, England, war die äußerst seltene Erscheinung eines Universalgelehrten. Seine Bildung und sein Wirken als Mediziner, Chemiker-Physiker, Sozialwissenschaftler, „Philosoph des Wissens“ waren außerordentlich. Seine Grundeinstellung war, die kleine und große Welt mit seinen besonderen Talenten besser zu machen und der Freiheit eine starke Stimme zu geben. Zu Recht wurde er ein moderner Aristoteles genannt.
Ein zielstrebiges, erfülltes Leben
Michael Polanyi war das jüngste von fünf Kindern. In Stichworten: Als 19-Jähriger den ersten wissenschaftlichen Aufsatz zu einem chemisch-medizinischen Thema veröffentlicht. Es folgten Beiträge zur Anwendung der Quantentheorie auf das 3. Thermodynamische Gesetz und die Adsorption, die Anlass waren, einen Briefwechsel mit Albert Einstein zu unterhalten. Zu Kriegsbeginn das Medizinstudium abgeschlossen, in der K&K-Armee als Sanitätsoffizier gedient; Dissertation während des Fronturlaubs geschrieben, in Adsorptionschemie promoviert; Sekretär des Gesundheitsministers. Mit einem Stipendium kam er an die TH Karlsruhe und wurde von Fritz Haber an das damalige Kaiser Wilhelm Institut für Faserchemie berufen, wo er als Professor und Leiter mit nobelpreisverdächtigen Forschungsergebnissen hervortrat. Zu dieser Zeit konvertierte er zum katholischen Glauben. Vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten emigrierte die Familie nach England.
Michael Polanyi setzte seine umfangreiche Forschungsarbeit in Physikalischer Chemie an der angesehenen University of Manchester fort. Zwei seiner Schüler wurden Nobelpreisträger. Übrigens: Der in Berlin geborene, in Toronto forschende Sohn John Charles erhielt 1986 den Chemie-Nobelpreis im Fachgebiet des Vaters. Nach 15 Jahren der Forschung wechselte er an den für ihn eingerichteten Lehrstuhl für Social Science. Wirtschafts- und sozialpolitische Fragestellungen beschäftigen ihn bereits in der Weimarer Republik, insbesondere Vollbeschäftigung, Freihandel, Geldpolitik und die Rolle von Zentralbanken. In dieser Zeit und danach widmete er sich seinem großen Thema, dem Denken über das Wissen. Michael Polanyi absolvierte Gastprofessuren an 14 Universitäten, von Chicago bis Yale, hielt renommierte Vorlesungen und Vorträge , wurde Senior Research Fellow am Merton College, Oxford, blieb bis zum Lebensende vortragend und schreibend tätig – und war Fellow of the Royal Society of England und Honorary Member of the American Academy of Arts.
Freiheit als Bedingung menschlicher Entfaltung
Nach dem ersten Besuch der Sowjetunion in 1935 verfasste Michael Polanyi einen kritischen Bericht zu den angeblichen Errungenschaften des Kommunismus in Wirtschaft und Wissenschaft. Die zentrale Planung mit der Anbindung der Forschung an Fünfjahrespläne wertete er ohne Abstriche als ineffektiv und wandte sich erfolgreich gegen Versuche, in England eine zentrale Forschungskoordination einzuführen. Hinter dem damals in Intellektuellenkreisen weitverbreiteten idealistischen Bild vom Sozialismus erkannte er das totalitäre System. Sein erstes nichtwissenschaftlichs Buch „The Contempt of Freedom“ (1940) war eine ernsthafte Warnung, „Full Employment and Free Trade“ (1945) eine Abrechnung mit der sozialistischen Ökonomie.
Als Verfechter von Freiheit gründete er 1940 die Society for Freedom in Science mit der Maßgabe, Wissen in Übereinstimmung mit humanen Werten zu mehren, in großer Freiheit und Verantwortung der Forscher und durch ihren offenen Austausch in der freien Welt. Autonomie in der Forschung hielt er für unabdingbar was die Freiheit einschloss, die anzugehenden Probleme selber wählen zu können. Sein Leitmotiv war, Freiheit zur Entfaltung des Einzelnen und von Gemeinschaften wirksam werden zu lassen.
Markt als Ordnungs- und Entdeckungsprinzip auch in der Forschung
Die intensive Erfahrung in wissenschaftlicher Arbeit brachte ihn zu der Erkenntnis, dass Forschung vielzentrisch angelegt sein soll und dass, wenn die notwendigen Wissensbestandteile eines Problems zusammenfallen, sich eine Lösung ergibt; analog zum ökonomischen Phänomen der „spontanen Ordnung“ . Am anschaulichsten erklärt sich dieses Phänomen mit dem optimalen Vorgehen beim Lösen eines komplizierten Puzzles.
Weder eine Arbeitsteilung nach dem Muster des Erbsenschälens oder das Kopierens der Puzzleteile und deren Aufteilung auf mehrere Mitspieler nach dem Wettbewerbsprinzip sind zielführend; nur eine Koordination durch eine „unsichtbare Hand“, bei der Schritt für Schritt entschieden wird, was die beste Lösung ist - im Nichtwissen, wie das Endresultat aussehen wird. Antrieb zum wissenschaftlichen Arbeiten muss die leidenschaftliche Suche nach Erkenntnis und Wahrheit sein.
So sehr er den Markt als Entdeckungsprinzip - ähnlich zu von Hayek und Mises - sah, war Polanyi der Überzeugung, dass eine freie Marktwirtschaft sich nicht allein überlassen bleiben darf. Die Zentralbank habe beispielsweise den geldpolitischen Auftrag, abzusehende Boom-Bust-Zyklen auszugleichen.
Tacit Knowledge - die verborgene Wissenswelt
Als erster hat Polanyi das Verständnis für das Implizite Wissen herausgearbeitet. Grundgedanke war: Wir glauben mehr als wir beweisen, wissen mehr als wir ausdrücken können („We can know more than we can tell.“). Erfahrung, Erinnerungen, Überzeugungen, Wertsysteme und Intuition sind wesentliche Elemente des Wissenskosmos. Eine einfache Rationalität wird unserem Denken nicht gerecht. Wissen ist zu vielschichtig, man denke an seine phänomenologische, instrumentelle, semantische, ontologische Struktur; oder die Unterscheidung von Wissen um das „Wie“ und des Wissens um das „Was“, die Tatsachen. Dass Wissen nicht einfach und vollständig ausdrückbar ist, lässt sich an der Könnerschaft am Beispiel beim Golfen oder Klavier spielen, beim Kochen und Backen oder bei der Kennerschaft bei Weinproben nachempfinden.
Das nach ihm benannte Paradox besagt, dass sich ein großer Teil des Wissens jenseits des expliziten befindet. Dazu betonte er, dass der Erwerb von implizitem Wissen Vertrauen in die Fähig- und Fertigkeiten, die Erfahrung, Einsicht, Kreativität, das Urteil anderer voraussetzt, und eigene Urteilsfähigkeit verlangt.
Personal Knowing im Gegensatz zum Rationalismus
Sein diesbezügliches Diktum: „All Knowing is personal“. Wissen, wiewohl objektiv, ist immer mit persönlichen Urteilen verbunden. Gegenüber der gängigen kritischen Theorie war er distanziert bis zurückweisend. Polanyi plädierte für eine vertrauensbildende, postkritische Richtung, die den Einzelnen in Werten und Moral geerdet belässt. Logik und Vernunft allein waren ihm nicht genug.
Das Opus magnum “Personal Knowledge -Towards a Post-Critical Philosophy” (1958) hatte großen Einfluss auf die Wissenschaftstheoretiker/-historiker Kuhn und Feyerabend. Im Ganzen ist es eine fundamentale Kritik des Reduktionismus bzw. Szientismus, die er als pathologische Formen des Denkens betrachtete. Das Phänomen der Emergenz wird ausgeschlossen, ebenso die Wirklichkeit höherer Ordnung, nämlich das Bewusstsein. Im Disput mit Alain Turing argumentierte er, dass „Mind“ (Geist) nicht auf logische Regeln beschränkbar ist und begründete, dass Information in der DNA weder chemisch noch physikalisch allein erklärbar ist.
Für die „Humanities“ (im Wesentlichen die Sozialwissenschaften) sah Polanyi das Aufkommen des Nihilismus, der im Marxismus/dialektischen Materialismus zum Dogma wurde. Demnach wird Moral von jedem transzendenten Bezug befreit und als systemimmanent bestimmt. Seine Bezeichnung dafür war „Moral Inversion“. Moral wird zur bloßen Begleiterscheinung von Entwicklungen, zu deren Umsetzung sogar Gewalt gerechtfertigt ist. Mit seinem Denken wollte er dem Guten, Wahren und Schönen den verloren gegangenen Stellenwert zuerkennen. In Kunst, Mythen, Religion sah er reale Bereiche des „Sinn-Wissens“, das ungleich dem objektiven Wissen nicht verifizierbar, doch validierbar ist. In diesem Zusammenhang sieht er den Glauben an Gott als “the integration of all incompatibles in our own life“.
Abschließend
Michael Polanyi war ein eigenständiger Denker, der aus der Hauptrichtung angelsächsischer Philosophie ausscherte und sich der Denktradition eines Descartes widersetzte. Seine Richtung ist die des kritischen Realismus, sein Stil integrativ. Die eigene Erfahrung mit und in den Naturwissenschaften und die verinnerlichte mitteleuropäische Denktradition haben zu einer ausgewogenen und umfassenden Reflexion auf die Dinge, den Menschen und die Erkenntnis im Allgemeinen geführt; ein Denken, das die moderne kritische Philosophie und den Objektivismus abwies. Die scharfe Trennung von Subjekt und Objekt entsprach nicht seinem integrativen Wissensverständnis.
Im Grunde war er ein von der Naturwissenschaft kommender Moralphilosoph, der sich gegen alle gewillkürten Formen von Freiheitsentzug stemmte. Vor den die Freiheit unterdrückenden kollektivistischen, sozialistischen Systemen warnte er früh, eindringlich und ausdauernd. Die Geschichte hat ihm recht gegeben. Für viele war Michael Polanyi ein großer moralischer Ansporn und Halt in einer von Angst und Unsicherheit erfüllten Zeit.
Vollständige Bibliographie von Harry Prosch, Michael Polanyi. A Critical Exposition, State University of New York Press Albany 1986, 319 S.
Gemeinsamkeit und Verschiedenheit von Karl und Michael Polanyi
Im großbürgerlichen, jüdisch säkularen Hause waren mehrsprachige Erziehung und klassische Bildung überaus wichtig. In früher Jugend gründeten und pflegten beide den Galilei Kreis in Budapest, das Forum namhafter Intellektuellen und Künstler Budapests. Interdisziplinarität war die Grundrichtung, die für die weitere persönliche Entwicklung bestimmend wurde. Karl wurde Redakteur, Historiker von Wirtschaft und Gesellschaft, Kulturanthropologe. Michael wurde Mediziner, Chemiker mit physikalischer Ausrichtung, Sozialwissenschaftler und Wissensphilosoph“, ein Polymath. Die Polanyis sind nicht einfach einzelnen Fachdisziplinen zuordenbar; sie verbanden vielmehr solche und gaben Anstoß zu neuen.
Liberale Herkunft, spannungsvoller Werdegang zwischen akademischer Ausbildung und politisch-sozialem Engagement in schwierigen Zeiten, Wissens- und Diskursfreude prädestinierten sie zu Beiträgen hoher Originalität. Karl entwickelte mit der „double movement thesis“ eine umfassende, neue Sicht auf die Wirtschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts und ihre Ausläufer in den Umwälzungen des 20. Jahrhunderts. Seine Suche nach Urgründen des Wirtschaftens in fremden Kulturen bereicherte die Wirtschaftsanthropologie.
In ihrer gesellschaftlichen und politischen Einstellung lassen sich markante Unterschiede ausmachen. Karl vertrat einen kommunitaristischen Standpunkt, weswegen er von linken Kreisen der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften als Kritiker des Kapitalismus vereinnahmt wird. Seine definitiv christliche Haltung zu den Grundlagen der Gesellschaft bleibt indes unberücksichtigt.
Beide sind herausragende Vertreter des selten gewordenen Denkstils, der vom amerikanischen Historiker William M. Johnston tiefgründig als „Austrian Mind“ beschrieben wurde.
ANMERKUNGEN
(1) So der Titel des Buches „The Modern Aristotle: Michael Polansky’s Search for Truth against Nihilism“ von David Holinski und Ronald Polansky, Edinburgh University Press, 2017. Aristoteles war auch Naturwissenschaftler (Biologe).
(2) Siehe dazu die „Familienaufstellung“ (im Anhang des vorhergehenden Relectures) und die Charakterisierung der beiden Brüder Karl und Michael (im Anhang zu diesem Relecture).
(3) Das waren: Reaktionskinetik, Adsorption von Gasen; Röntgen-Diffraktion, Festkörpermechanik, Ionische Reaktionen in Lösungen, Bindungsdissoziationsenergie, Mechanismus von Polymerisationen.
(4) Eugene Paul Wigner, mit dem er viele gemeinsame Veröffentlichungen hatte, und Melvin Calvin.
(5) John Charles Polanyi war Professor der Chemie an der Universität von Toronto, Träger vieler akademischer Auszeichnungen. Er hatte eine poetische Ader, stellte sich dem öffentlichen Diskurs, war führendes Mitglied der kanadischen Pugwash-Bewegung und erklärter Gegner der Atomwaffenverbreitung.
(6) Gifford Lectures (Aberdeen), the Virginia Lectures (Univ. of Virginia) und McEnerney Lectures (Univ. of Berkeley)
(7) Bericht zu „U.S.S.R. Economics“: Fundamental data, system and spirit, 1935
(8) Siehe: The Contempt of Freedom: the Russian Experiment and After (1940) und The Logic of Liberty: Reflections and Rejoinders (1951).
(9) Diese Überlegungen wurden bereits von Adam Smith und vor allem von Friedrich von Hayek ausgeführt.
(10) Hierin bestand große Einigkeit mit den Ansichten seines Bruders.
(11) Diese betrifft nicht zuletzt auch den Rationalismus von Popper, der das „unwissenschaftliche“ Wissen ausschließt. Die kritische Theorie bzw. die Diskurstheorie von Habermas würde Polanyi ablehnen.
(12) Diese Frage ist im Zusammenhang mit Computer/Deep Learning und Künstlicher Intelligenz ausgesprochen aktuell: Zählt nur das Ergebnis? Sind Mittel und Methode nicht von Bedeutung?
(13) Bücher, die besonders darauf eingehen: „The Study of Man“ (1959), „Beyond Nihilism“ (1960)
(14) Behandelt insbesondere in „Science, Faith and Society“(1946)