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Relectures
Denkzettel Nr. 71
08.09.2020

RELECTURE 6: Karl Polanyi - The Great Transformation: hochaktuell für das 21. Jahrhundert

von Manfred Hoefle

 

 

Ausgehend vom England des 19. Jahrhunderts analysierte er die Zeit der Umbrüche der damaligen Gesellschaft und Wirtschaft - und zog Lehren für das Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Für die Gegenwart sind seine Erkenntnisse unerwartet aktuell. Zuerst ein Abriss über sein Leben und Wirken.

1886 in Wien geboren, gestorben 1964 im kanadischen Pickering, war Wirtschaftshistoriker und Sozialwissenschaftler, der 1944 das bahnbrechende Werk „The Great Transformation“ herausbrachte, ein Klassiker der Politischen Ökonomie, Wirtschaftshistorie und Soziologie.

Ein zerklüftetes Leben mit spätem Höhepunkt

Karl Polanyi studierte Jura und Philosophie in Budapest, engagierte sich politisch links, war in der Arbeiterbildung aktiv. Nach dem schnellen Ende der ungarischen Räterepublik von 1919 floh er nach Wien, wurde Redakteur und Mitherausgeber des „Österreichischer Volkswirt“ (das Pendant zum englischen Economist) und der deutschen Ausgabe „Der Deutsche Volkswirt“. Nach Aussage von Peter Drucker, dem Pionier des Managements, der ihn in Wien kennen lernte und dem er in den USA eng verbunden blieb, war Karl Polanyi der herausragende Verfasser. Seine soziale Einstellung zeigte sich in der Unterstützung ungarischer Flüchtlinge, die ihn und seine Familie an den Rand von Armut brachte.

Verheiratet war Karl Polanyi mit „Ilona“ Duczynska, einer polnisch-stämmigen, adeligen, linken Agitatorin und Journalistin mit Physikstudium. Nach Verlust der Anstellung von Karl wanderten sie mit Tochter Kari(1) nach England aus, wo er für die „Workers Educational Assoziation“ (WEA) tätig wurde und eine recht bescheidene Existenz führte. Mit Unterstützung befreundeter Quäker absolvierte er Vorträge in den USA , erhielt einen Lehrauftrag für Wirtschafts- und Sozialgeschichte am Bennington College in Vermont.(2) Ein Stipendium (1941-1943) der Rockefeller Fundation ermöglichte das Buchprojekt „The Great Transformation“, das ein großer Klassiker werden sollte - im Übrigen das einzige abgeschlossene Buch von Karl Polanyi.

Dieses wirtschaftsgeschichtliche Werk begründete einen neuen, hochproduktiven Lebensabschnitt des bereits über Sechzigjährigen. Er erhielt (1947-1953) eine Gastprofessur an der Columbia University, New York. Die Forschungstätigkeit erstreckte sich in einem weiten Bogen zu Wirtschaft und Institutionen, die posthum in Trade and Market in the Early Empires ihren Niederschlag fand. Als Privatgelehrter beschäftigte er sich mit anthropologischen Themen, hauptsächlich mit dem Zusammenhang von Gemeinschaft, Wertschöpfung und Handel in frühen und sogenannten primitiven Gesellschaften. Er war und blieb angetrieben, den Schlüssel zu einer guten, idealen Gesellschaft mit ihren Handels- und Geldformen zu finden - wurde nicht fündig, auch nicht bei den Griechen der Antike.

Karl Polanyi war linkspolitisch-sozial aktiv in der Jugend, zeitlebens ausgesprochen sozial bewusst, idealistisch und exzentrisch. Den Lebensabend verbrachte er in Kanada, weil seiner Frau aufgrund ihrer politischen Vergangenheit die Einreise in die USA verwehrt geblieben war.

Erkenntnisse und Thesen

The Great Transformation beginnt mit der dumpfen Feststellung „Die Welt des 19. Jahrhunderts ist zusammengebrochen.“(3) Das war die schlichte, spannungsgeladene Ankündigung dessen, wovon das 400-seitige Werk handelt. Der ursprüngliche Titel “The Origins of Our Future” sollte darauf verweisen, wie es zur Welt des frühen 20. Jahrhunderts gekommen war.(4)

Karl Polanyi sah die gesellschaftliche Ordnung dieser Zeit gestört durch die Aufhebung des Kräftegleichgewichts, des freien Handels, des Goldstandards, der einem internationalen Bindungs- und Vertrauensverlust gleichkam, - und des liberalen Staates. Sichtbare Folgen waren Börsenkrach, Depression, Massenarbeitslosigkeit, die letztlich den Weg in den Faschismus ebneten.(5) Der angelsächsische Kapitalismus als System von Kapitalgesellschaften ohne Haftung war keine natürliche Entwicklung. Dieser wurde vielmehr von den Tories und Liberalen durchgeboxt, um Gewinne möglichst haftungsfrei einzufahren. Limited Liability war dafür die rechtliche Konstruktion, das Fallenlassen sozialer Bedenken die dazu passende moralische Einstellung der mächtigen Kreise.

Die grundlegende Schlussfolgerung von Polanyi war: Die Wirtschaft muss in die Gesellschaft eingebettet sein, weil sie sonst die Gesellschaft gefährdet und auf lange Sicht zerstört. Sein Schlüsselwort dafür war „Embeddedness“. Das Wirtschaftssystem ist nämlich von nichtökonomischen Motiven getragen, die sich aus den Sozialbeziehungen ergeben. Die Umwandlung, die Transformation des vorletzten Jahrhunderts bestand im Wesentlichen darin, dass die Wirtschaft nicht mehr integriert war und die sozialen Beziehungen dem Wirtschafts-/ Arbeitssystem untergeordnet wurden. Weil aber wirtschaftliches Handeln variabel und gesellschaftliches Verhalten dagegen in hohem Maße konstant ist, ist das richtige Verhältnis zueinander für eine menschengerechte Gesellschaft elementar.

Eine zentrale Beobachtung von Polanyi war: Die Ökonomisierung im Zuge der Industriellen Revolution brachte die Vermarktung („Marketization“) der bis anhin „fiktiven Ressourcen“ Land, Arbeit und Geld. Wobei Land sich mit Natur, Landschaft, Landwirtschaft; Arbeit mit menschlicher Betätigung und ordentlicher Lebensweise; Geld mit Kaufkraft gleichsetzen lässt. Deren Bepreisung und Verwandlung zur Ware (Kommodifizierung) führt zur Entwertung von Arbeit. Arbeit ist folglich ihres Gehalts als sinnvolle Betätigung beraubt, wird als Erfüllung und Entfaltung nur mehr eingeschränkt empfunden. Die gesellschaftlichen Auswirkungen sind nach Polanyi „Laster, Perversion, Kriminalität, Hunger“.(6)

Eine wichtige Erkenntnis in seinen Worten: „Wir vertreten die These, daß die Idee des selbstregulierenden Marktes eine krasse Utopie bedeutete.“(7) Denn der Markt erfordert, soll er funktionieren, zahlreiche Regulierungen, die häufig das Ergebnis von Interessen einflussreicher Gruppen zu Gunsten der Kapitalseite sind. Der Markt setzt die Wirkmacht des Rechtsstaates und einer hinlänglichen Moral der Wirtschaftsteilnehmer voraus, ohne selbst einen konstruktiven Beitrag dafür zu erbringen. Zudem soll der Staat soziale Reparaturen durchführen, die der möglichst weitgehend freie Markt verursacht.

Grundlinien für eine „bessere“ Wirtschaft und Gesellschaft

Als Prämisse gilt, dass der Mensch „von Natur aus“ als gesellschaftliches Wesen geschaffen ist und nicht als marktwirtschaftlicher Akteur oder anonymer Wirtschaftsfaktor. Das gesellschaftliche Grundmodell ist die Familie. Das bedeutet, dass eine gute Gesellschaft sich von unten aufbaut und überschaubar sein soll. Die Wirtschaft soll sich nach Polanyi darauf einstellen. Er geht soweit, für einen teilweisen Entzug der Arbeits-, Immobilien- und Finanzmärke aus dem Marktgeschehen zu plädieren. Seine Vorstellung kreist um eine „faire“ Marktwirtschaft im Gegensatz zu einem Plansystem/einer Zentralen Planwirtschaft oder dem Kapitalismus angelsächsischer Art.

Polanyi sah in der Arbeiterschaft eine treibende Kraft der Gegenbewegung. In der Tat bildeten sich Gewerkschaften, Sozialgesetze traten in Kraft und die Arbeitslosenversicherung wurde eingeführt. Eine wichtige Referenz war die vom Unternehmer und Genossenschaftspionier Robert Owen (1771-1858) geschaffene Betriebsgemeinschaft.(8) Vertreter des Laissez-faire müssen eingestehen, dass ein freier markt ohne die schützende Hand des Staates über Eigentum, Arbeiterschaft und Marktgeschehen nicht zustande gekommen und bei deren Wegziehen zusammengebrochen wäre. Den Ausweg aus dem Dilemma eines sozialistisch-kollektivistischen und einem liberalen-libertären System sah Polanyi in einem – heute würde man sagen – kommunitaristischen Gesellschaftskonzept, womit er ein auf christlichen Grundsätzen beruhendes meinte.

Karl Polanyi von hier und heute aus gesehen

Die Erkenntnisse von Karl Polanyi erhielten nach der Erdöl- und Wachstumskrise Mitte und Ende der 1970er-Jahre und erneut seit der Finanzkrise von 2008 Aktualität.(9) Die von ihm beklagte Ökonomisierung hatte sich fortgesesetzt, erhielt sogar eine neue Dimension mit der Finanzialisierung der Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten.(10) Diese betraf vor allem neue, kurzfristige Finanzierungsformen: Junk Bonds, Venture Capital, Hedging und Leveraging mit Structured Finance Produkten. Der Shareholder Value-Ansatz erfuhr bei börsennotierten Unternehmen großen Auftrieb. Überhaupt wuchsen die Finanzmärkte explosiv, verselbständigten sich und begannen die Realwirtschaft zu dominieren.

Der Faktor Arbeit wurde in der Unternehmensführung (und Managementlehre) zu Human Resources abgewertet. Im Bereich der Dienstleistungen wurde durch die „Gig-Economy“(11) Arbeit zu einer Handelsware, die im IT-/Internet-Bereich sogar global abrufbar ist. Der Arbeitsmarkt wuchs insbesondere in den Segmenten der Leiharbeit, die vielerorts von persönlichen und sozialen Verpflichtungen frei ist. Die Ich-AG wurde als fortschrittliche Arbeitsmarktlösung angepriesen. Die Digitalisierung „programmiert“ einen zunehmenden Anteil von Arbeit. Soweit diese algorithmisch abbildbar ist, wird sie kurz über lang automatisiert. Die Freizügigkeit des Faktors Arbeit in der EU löste eine Wanderbewegung von Osten nach Westen. Die Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge/Migranten, insbesondere in den Jahren 2015/16 sorgte in vielen Ländern Europas für große Integrationsprobleme auf dem Arbeitsmarkt und für die Gesellschaft.

Arbeit geriet von Neuem wieder unter großen Druck. Waren es früher Wanderbewegungen vom Land in die Stadt, so hat man es in jüngster Vergangenheit und absehbaren Zukunft mit Migrationsströmen zu tun, die Arbeitsmärkte und Sozialordnungen an die Grenzen der Belastung und darüber hinaus führen.

Die Kommodifizierung von Waren und Dienstleistungen nahm zu und mit der Plattformökonomie kam es zur rücksichtslosen systematischen Abschöpfung von Daten. Ihr Zweck ist, die Medienabhängigkeit zu vergrößern und auf diese Weise, hohe Gewinne für Wenige einzustreichen. Das normale Leben wurde durch gezielte, personalisierte Werbung beeinflusst, der kaum zu entrinnen ist. Über Social Media trat eine neue Variante der Marketization ein, die danach trachtet, Freundschaften und traditionelle Gemeinschaften gegen Friends, Followers, Communities auszutauschen. Der heutige Zustand kann als große Abschöpfung durch global tätige US-Datenkonzerne (und zunehmend auch chinesische Plattformunternehmen) charakterisiert werden. Die EU, die europäischen Nationalstaaten und zivilgesellschaftliche Organisationen konnten sich ihrer nicht erwehren - und lassen die Entschlossenheit dazu vermissen.

Die Ressource Land betreffend, vollzog sich eine umfangreiche Kommerzialisierung. Immobilienblasen und Mangel an günstigen Wohnungen wurden ständige Begleiterscheinungen. Herkömmliche, kleinteilige Bewirtschaftungsformen wurden ohne großes Aufsehen vom Agrarbusiness überrollt. Die EU-Landwirtschaftspolitik gab der Größe den Vorzug, trug dazu bei, kleine Strukturen zu beseitigen. Als „Weltproblem“ erweist sich der Klimawandel. Statt zu einem gemeinsamen Problembewusstsein mündet er in einen Wettbewerb um die günstigste nationale Lösung, wie die Problematik um die CO2-Besteuerung zeigt.

An zu lösenden Problemen gibt es viele. Der Weg dazu, marktwirtschaftlich oder gesetzlich oder als Kombination, ist wegen der überstaatlichen Verflechtung außerordentlich schwierig. Das Vordringen habgieriger Eliten, die gewachsene Bedeutung von Parabusiness (12) und Para-Government(13) (v.a. Lobbyisten, Berater, Prüfer) auf der einen Seite und die staatskapitalistischen Kräfte auf der anderen Seite sollten endlich außerordentliche Anstrengungen zu einer geregelten Neuordnung auslösen.

Abschließend

Karl Polanyi hat die Forderung aufgestellt, dass die Gesellschaft die Wirtschaft bestimmen, nicht die Wirtschaft die Gesellschaft beherrschen soll. Dieses Postulat ist akuter denn je. Seine Hoffnung, dass „Das Ende der Marktwirtschaft könnte der Anfang einer Ära nie dagewesener Freiheit bedeuten“(14), ging nicht in Erfüllung. Der „teuflische Mechanismus“ (der Marketization) hat seine Wirkkraft weit ausgedehnt. Die als Fehlorientierung gewertete Gewinnsucht wurde trotz vereinzelter Gegenbewegungen noch größer. Die erhoffte Wiederherstellung von mehr Gemeinschaft und die Mehrung von Gemeinsinn sind nicht eingetreten.

Verdienstvoll ist sein Eintreten für eine kritische Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie. Der Einzelgelehrte Karl Polanyi hat die Geschichte des 19. Jahrhunderts neu geschrieben, indem er die Wechselwirkung von Wirtschaft und Gesellschaft herausarbeitete und darlegte, dass Geschichte und Kulturvergleiche wichtige Lehren vermitteln.(15) Seine Synopsis galt dem englischen Jahrhundert des Wirtschaftsliberalismus. Eine vergleichbare historische Zusammenschau des amerikanischen 20. Jahrhunderts mit dem Investor- und Datenkapitalismus steht aus. Ob das 21. Jahrhundert ein chinesisches mit einem Staatskapitalismus werden wird, ist nicht unwahrscheinlich. Sicher scheint, dass das angelsächsische Modell nicht mehr universal ist. Ob es in Europa zu einem Aufleben eines sozio-ökonomischen Modells kommen wird, also zu einem 3. Weg, wie ihn Karl Polanyi erwünschte, ist ungewiss.

Seiner Vorstellung am Nächsten kam später die Soziale Marktwirtschaft als „das Prinzip des sozialen Ausgleichs“ (Alfred Müller-Armack)(16); sie darf als gutes Austarieren von Markt und Gesellschaft bzw. als gelungene Zusammenführung der politischen und wirtschaftlichen Sphäre angesehen werden. In der Abwandlung zu einem Wohlfahrtsstaat und einer einhergehenden schleichenden Zersetzung von Gemeinschaft und Bürgertugenden hat sie sich jedoch von der intendierten Verfassung eines Walter Eucken, Wilhelm Röpke, Ludwig Erhard und anderer Gründerahnen weit entfernt.

Angesichts der im Gang befindlichen Umwälzung ist die Gabe zur Neukonzeption gefragt, ist große Gestaltungskraft von Neuem verlangt.

 

Karl Polanyi: The Great Transformation, Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen; 12. Auflage 2015. Original: The Great Transformation, 1944

 

Die Polanyi’s - eine außergewöhnliche Familie

Diese Familienaufstellung ist zum besseren Verständnis des besonderen, wechselvollen familiären Hintergrunds gedacht.
Diese Familie ist nicht vielen bekannt. Sie war das „progressive“, intellektuelle Zentrum der ungarischen Gesellschaft der Jahrhundertwende. Alfred Adler, Manés Sperber, Georg Lukács, Leo Szilard, John von Neumann, Viktor Weiskopf, Konrad Lorenz, viele Künstler und politische Denker waren mit den Polanyi’s verbunden.
Der Vater, Mihaly Pollacsek (ungarisiert Polányi) entstammte einer gutsituierten jüdischen Familie aus dem Nordosten Ungarns, die Mühlen und Destillerien besaß. Damals nicht unüblich - trat er zum Calvinismus über. Nach dem Studium an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH Zürich) wurde er mit der Eisenbahn groß, brachte es zu deren „König“ in Ungarn - und war 1900 bankrott. Die Mutter, Cecile Wohl aus Wilna, war in ihrer Jugend Anarchistin, in reifen Jahren Salonière von Budapest. An ihre Kinder gab sie die gesellschaftskritische Einstellung, den Einsatz für eine gerechtere Gesellschaft weiter. Im dunklen Jahr 1939 verstarb sie und keines der Kinder konnte am Grab stehen.
Die fünf Kinder, Adolf, Laura, Karl, Sophie, Michael erhielten eine umfassende Bildung durch Gouvernanten und Privatlehrer. Alle Kinder waren hochbegabt und jedes auf seine Art früh politisch interessiert sozial engagiert. Der erste Sohn, Adolf, wurde Ingenieur, war in Italien unternehmerisch tätig, wanderte wegen des aufkommenden Faschismus und Antisemitismus nach Brasilien aus. Laura - von allen „Mausi“ genannt - promovierte in Wirtschaftshistorie. Als Mutter von drei Kindern trat sie in Wort und Tat für eine moderne Pädagogik ein, gründete einen experimentellen Kindergarten. Davor war sie als Journalistin und Wortführerin in der ungarischen Volksbewegung, in der „Grünen Front“ aktiv. Als Soziologin des „Landes“ entwickelte sie Konzepte zur Gemeinde. Ihre Tochter Eva Stricker-Zeisel wurde eine weltbekannte Industriedesignerin, Keramikerin. Im amerikanischen Exil kümmerte sich Laura unablässig um die Rettung von Mitgliedern der Großfamilie. Für die jüngere Schwester Sophie kam die Hilfe vor der Vernichtung durch die Nationalsozialisten zu spät.
Die Polanyis verband eine einzigartige Geschichte: Hochblüte an Bildung, sozialer Aufstieg und wirtschaftliche Verwerfung, Auswanderung, Flucht und Exil, großer familiärer Zusammenhalt über Länder und Kontinente hinweg, bürgerlich Bescheidenheit, überragende Schaffenskraft trotz vieler Schicksalsschläge. Früher Idealismus und mutiges Eintreten für eine freie und „bessere“ Gesellschaft zeichneten zwei, drei Generationen dieser Familie aus. Sie war ein außerordentlich starkes gesellschaftliches Ferment in der „Welt von Gestern“ (Stefan Zweig), das in England und Amerika bedeutende Beiträge in der Wissenschaft leistete.
Peter Drucker, Freund von Karl und Kenner der Familie berichtet davon aus der nicht genauen Erinnerung in „Adventures of a Bystander“, Kap. The Polanyis, S. 123-140), Harpers 1978, Wiederauflage Wiley 1994. Judith Szapor: From Budapest to New York: The Odyssey of the Polanyis, Hungarian Studies Review. Vol. XXX, Nos 1-2 (2003)

 

Anmerkungen

(1)Kari Polanyi-Levitt wurde eine bekannte Entwicklungsökonomin an der McGill-Universität, Toronto. Sie engagierte sich insbesondere für den Aufbau von Volkswirtschaften des „Südens“, musste schließlich das Abschöpfungsverhalten amerikanischer Konzerne hinnehmen. Wie ihr Vater war sie idealistisch eingestellt, kritisierte zuletzt die Finanzialisierung der globalen Wirtschaft.
(2) Über Vermittlung von Peter Drucker, der dort auch lehrte und mit dem er in regem Gedankenaustausch stand.
(3) Original: „Nineteen Century civilization has collapsed“.
(4) Die Lehrtätigkeit am Bennington College und die Diskussionen mit Peter Drucker waren wohl der Impuls für dieses geschichtsträchtige, kulturell weit ausgreifende, international ausgerichtete Werk. Mit „The End of Economic Man“ lieferte Peter Drucker 1939 eine Erklärung des Nazismus und 1941 mit „The Future of Industrial Man“ eine Vorausschau auf eine Gesellschaft von Organisationen und die postindustriellen Gesellschaft zeithistorische und vorausschauende Analysen.
(5) Im Faschismus sah Polanyi den Versuch, den Kapitalismus „totalitär zu ordnen“.
(6) The Great Transformation, 1978; S. 108
(7) The Great Transformation, 1978, S. 19
(8) Seinerzeit erlangte sein Musterbetrieb in Lanark (Schottland) große nationale und internationale Beachtung.
(9) Seit der deutschen Ausgabe von 1978 The Great Transformation erreichte bis dato 15 Auflagen.
(10) Siehe dazu Kari Polanyi Levitt: Die Finanzialisierung der Welt - Karl Polanyi und die neoliberale Transformation der Weltwirtschaft, 2020
(11) Unter Gig-Economy versteht man vermittelte, kurzzeitige „Arbeits“-verhältnisse außerhalb des Arbeitsrechts, gleichbedeutend mit digitaler Taglöhnerschaft.
(12) Siehe Denkschrift Nr. 21 und 23: https://www.managerismus.com/themen/parabusiness
(13) Siehe Denkschrift. 22: https://www.managerismus.com/themen/parabusiness/denkschrift-nr-22
(14) The Great Transformation, S. 339. Das war eine klare Gegenposition zu Hayek und auch im Vergleich zu Drucker radikal.
(15) Das fast 400 Seiten umfassende Werk ist anspruchsvoll und interessant geschrieben. Der Leser wird gewissermaßen auf die Reise durch die Geschichte mitgenommen. Der darin hervortretende Denkstil hat eine Verwandtschaft zu dem von Joseph Schumpeter oder Peter Drucker: der „Austrian Mind“ (siehe dazu: The Austrian Mind: An Intellectual and Social History 1848-1938 von William M. Johnston, 1972.
(16) Ein namhafter Proponent der Sozialen Markwirtschaft in der Bundesrepublik war der Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaftler Wilhelm Röpke. Der bezeichnende Titel eines seiner Werke: „Jenseits von Angebot und Nachfrage“.