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Relectures
Denkzettel Nr. 25
07.02.2013

RELECTURE 1: Konrad Lorenz und "Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit"(1)

von Manfred Hoefle

 

 

Konrad Lorenz (1903-1989) Mediziner, Zoologe, Verhaltensforscher, Nobelpreisträger 1973.

 

Den meisten ist Konrad Lorenz als „Vater der Graugänse" in Erinnerung. Rund 60 Jahre widmete er der Verhaltensbeobachtung von Tieren. Er war im Alter zunehmend auch ein intensiver Beobachter von Menschen in ihrem individuellen und kollektiven Verhalten. Was er sah und was er ahnte, erfüllte ihn, trotz seines Grundoptimismus, mit Sorge. „Wir leben in einer Zeit, in der es der Naturforscher ist, der gewisse Gefahren besonders klar zu sehen vermag. So wird ihm das Predigen zur Pflicht." Das sind die einleitenden Worte zu einer Vorlesungsreihe im Hörfunk, die später zu seiner am meisten verbreiteten Schrift wurde; und heute (fast) vergessen ist.

Lorenz ist ein Vertreter der in der heutigen Zeit rar gewordenen Spezies des engagierten Vertreters einer „guten" Zivilgesellschaft und einer dem Menschen dienenden Wissenschaft. Ob der Entwicklungen in den 1960-70er-Jahren sah er sich verpflichtet, seine Sicht auf die Welt anspruchsvoll, umfassend und verständlich darzulegen. Er tat es aus der Überzeugung, dass „jede Gefahr viel von ihrer Schrecklichkeit (verliert), wenn ihre Ursachen erkannt sind"; ein Gebot, das in Politik und Wirtschaft zeitlose Bedeutung hat. Er war ein „Ökologe" im umfassenden, insbesondere im sozialen Sinne, den die genetischen und verhaltensbezogenen Wechselwirkungen beschäftigten.

Im Folgenden sind seine acht Pathologien angeführt und zu einer überfangenden Betrachtung bzw. These verdichtet. Die einzelne Pathologie wird erläutert und seine Therapievorschläge werden angeführt.

1. „Überbevölkerung"

Eine hohe Dichte von Menschen führt zu „Entmenschlichung", zum Schwinden von Gemeinschaft und Solidarität.

Ist die Dichte an Menschen hoch und das Gedränge groß, machen sich eine Haltung des Nichteinmischens und eine markante Unfreundlichkeit breit. Diese Erfahrung macht jedermann an Bahnhöfen, Flughäfen, Einkaufszentren, bei Mega-Events und in Stadien. Das Überangebot an sozialen Kontakten fordert den Menschen eine eigentlich unnatürliche Distanz ab. Enge löst Aggression aus, bringt Vermassung mit sich, erzeugt Vereinsamung und Teilnahmslosigkeit. Auf die heutige Zeit übertragen: Die Social Media in Form von Facebook und ähnlichen scheinen Individualisierung und Gruppenbildung zu befördern, in Wirklichkeit werden sie aber zu Vehikeln einer distanzierten, flüchtigen Kommunikation. Die Lehre daraus: Der dauerhafte Ausweg ist nur in einer überschaubaren Welt möglich.

2. „Verwüstung des Lebensraumes"

Geldgier bzw. Gewinnmaximierung führen zu Raubbau an den Ressourcen.

Bauern wissen um die „Erschöpflichkeit" der Natur, Naturschützer kennen die katastrophalen Folgen, die aus plötzlichen, kleinen Einwirkungen hervorbrechen, beispielsweise durch Einschleppung rasch sich vermehrender Tiere und Pflanzen oder durch die Verseuchung von Wasser mit Pestiziden. Die zerstörerische Kraft eines einseitig gewinnorientierten Wirtschaftens ist allerorten abzulesen. Der evolutionäre Gewinn großer Vielfalt geht unversehens verloren: in der Landwirtschaft, wenn Bauern durch eine monokulturelle Agrarindustrie verdrängt und lokale Handwerker und Einzelhändler durch Ableger von Konzernen ausgeschaltet werden. Lorenz verwendet dafür das Bild vom Tumor, der als strukturarmer Zellhaufen wuchert, beispielsweise als uniforme Stadtrandsiedlung oder als menschenunwürdige Plattenbauten. Eindringlich beklagt er die „Verhässlichung" von Stadt und Land.

Auf unsere Zeit umgelegt, ergibt sich das abschreckende Szenario einer von Agrar- und Lebensmittelkonzernen beherrschten Versorgung der Massen von Konsumenten, von global einkaufenden, expansiven Handelsketten vom Schlage Walmart (mit rund 2 Millionen Beschäftigten), vom Universalversandhändler Amazon, der den Einzelhandel zu substituieren trachtet und von globalen Logistikern wie UPS. Das Resultat wäre eine ärmere Welt mit monopolisierten Märkten und einer flächenfressenden, energieintensiven Infrastruktur. Einer so beschaffenen Gesellschaft kommt unversehens die „Ehrfurcht vor der Größe und Schönheit der Schöpfung" abhanden, Fähigkeiten des Handwerks gehen verloren, der Zusammenhalt von Gemeinschaften löst sich auf, Dörfer und Städte veröden. Die „Empfindlichkeit gegenüber dem ethisch Verwerflichen" nutzt sich ab. Und der zivilisatorische Niedergang als Folge der Verwechslung von Mittel und Zweck ist definitiv eingeleitet.

3. „Der Wettlauf mit sich selbst"

Angst führt zu hohem Arbeitstempo und zum Drang sofortiger Bedürfnisbefriedigung

Die gegenwärtige nicht nur westliche Zivilisation ist vom ungebremsten Vorantreiben des technischen Fortschritts und vom ungehemmten Konsumieren geprägt. Der Zeitstrom schiebt die Angst vor sich her, von anderen überholt zu werden: bei Status, Karriere und Konsum. Diese kollektive Paranoia wird zum krankmachenden Antrieb. Der Lehrer von Lorenz, Oskar Heinroth diagnostizierte kurz und bündig, dass ein hohes Arbeitstempo das „dümmste Produkt intraspezifischer Selektion" sei, weil es der Gesundheit schadet und den Menschen die Zeit für Reflexion raubt und sie blind gegenüber Werten macht. In der Lorenzschen Diktion heißt es so: „verblendete Geldgier und zermalmende Hast"; nicht zu Unrecht, wenn man an die Bilderflut der Medien und an den betäubenden Lärm der Events denkt. Die unaufhaltsame Jagd nach Zeiteinsparung wird zu einer allgegenwärtigen Verhaltensnorm. Aber niemand frägt, was daraus wird, wenn Arbeiten immer mehr der Hektik eines Rennens gleichkommt. Was bringt der Zeitgewinn noch? Die wachsende Zahl der psychischen Erkrankungen und der Burn-outs sind eine Mahnung.

Der amerikanische Konsumkritiker Vance Packard warnte schon Ende der 1950er-Jahre in seinem bekanntesten Buch The Hidden Persuaders (Die geheimen Verführer) vor der progressiven Steigerung der Bedürfnisse und vor dem explosiv wachsenden Abfall. Diese Perspektive sah auch Lorenz heraufziehen und kritisierte konsequent den immanenten Wachstumsdrang der Wirtschaft.

4. „Wärmetod des Gefühls"

Verweichlichung führt zum Schwund von Gefühlen.

Wo sofortige Befriedigung (Instant Gratification) die Regel ist, fehlt der Spannungsbogen von Lohn und Anstrengung, von Lust und Unlust, nimmt die Abstumpfung gegenüber Lust überhand. In seiner ausdrucksvollen Sprache liest es sich so: „Der naturgewollte Wogengang der Kontraste von Leid und Freud verebbt in unmerklichen Oszillationen namenloser Langeweile". Eine Manifestation dieser Entwicklung erblickt er in der Neophilie, der Sucht nach Neuem und nach ständiger Abwechslung. Beispielhaft dafür ist das Einsammeln neuer Freunde (in Facebook- Geschwindigkeit) oder das mitleidslose Zurücklassen des Hundes beim Umzug. Im besonderen Maße sieht Lorenz Gefahren für die Erziehung von Jugendlichen, die an Überfluss und dauernde Belobigung gewöhnt sind. Als Mittel gegen seelische Verwahrlosung verweist er auf die guten Erfahrungen des großen Erziehers Kurt Hahn mit seinem erlebnisorientierten Ansatz.

5. „Genetischer Verfall"

Rein wirtschaftlicher Wettbewerb führt zur negativen Selektion.

Nach Lorenz erzeugen natürliche Rechtsgefühle und Rechtstraditionen den für eine moderne Zivilisation notwendigen Selektionsdruck auf soziale Verhaltensnormen. Die sogenannte Gruppenselektion wirkt auf ein altruistisches Verhalten hin. Solange das Anstoßnehmen an asozialem Verhalten funktioniert und ein gestörtes moralisches Verhalten bestraft wird, hat es eine zivilisatorisch vorteilhafte Wirkung. Nach einer von ihm zitierten Studie des Rechtsgelehrten Peter H. Sand, der den Gemeinsamkeiten („Common Core of Legal Systems") nachging, ist das mysteriöse „Rechtsgefühl" von zentraler Bedeutung. Ein positivistischer Ansatz dagegen wird den angeborenen Verhaltensweisen der Menschen nicht gerecht. Der Mensch ist, wie der Anthropologe Arnold Gehlen feststellte, von Natur aus ein Kulturwesen, dessen instinktive Antriebe und deren Beherrschung sich ergänzen.

Vehement tritt Lorenz gegen den „Irrglauben der pseudodemokratischen Doktrin" auf, dass das menschliche Verhalten in seiner Gesamtheit konditioniert und damit leicht veränderbar ist. Nach seinen Beobachtungen lässt die zeitgeistige Lebensweise Anständigkeit und Güte zu wenig Raum. Dass Moral unentbehrlich ist, steht für ihn fest. Für die Auswahl von Führungskräften gilt demzufolge die Forderung, dass sie anständig sein müssen. Diese eigentlich selbstverständliche Forderung hat nicht mehr den angemessenen Stellenwert, wie die vielen Skandale in der Finanzwirtschaft zeigen. Selbstloser Einsatz für Familie und Gemeinschaft sind offensichtliche, instinktive Verhaltensformen, die unter die Räder des Zeitgeistes gekommen sind. In der Infantilisierung und der zunehmenden Jugendkriminalität können Vorzeichen einer Regression gesehen werden, die dem modernen Menschen immer mehr die Urteilsfähigkeit nimmt, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden.

6. „Abreißen der Tradition"

Die Neuerungssucht führt zu Kulturlosigkeit.

Gelingt die Verständigung zwischen Generationen und die Identifikation mit den Älteren nicht mehr, funktioniert die „kumulierende Tradition" nicht mehr. Ähnlich dem Artenwandel des Genoms ist das Festhalten des Erprobten aber eine lebensnotwendige Eigenschaft; wichtiger als das Hinzuerwerben von Neuem. Kultur ist derart wechselwirksam, dass es kritisch ist, Teile auf technokratische Weise unachtsam herauszulösen. Falsch ist auch der Glaube, Wissenschaft könne eine Kultur herstellen. So wenig wie man normale Tiere „machen" kann, so wenig lässt sich Kultur erzeugen und nach Belieben ändern. Forsches Change Management in Unternehmen hat sich in der Tat sich in vielen Fällen als zerstörerisch erwiesen.

Lorenz beklagt eindringlich die Unterschätzung des nicht rationalen-kulturellen Wissensschatzes und den Irrglauben, dass nur das rational Erfassbare als Wissen Gültigkeit hat. Bereits historisch ist der von ihm ausführlich beschriebene Generationenkrieg der 68-er mit ihrem abgründigen Hass auf alles Alte und alle Älteren oder die damalige verbrecherische chinesische Kulturrevolution. Jüngste Formen sozialen Neuerungsdranges unter dem politischen Anspruch Gerechtigkeit und Gleichberechtigung lassen eine kulturelle Höherentwicklung unwahrscheinlich werden, weil sie eine Abwertung der einen und die Aufwertung der anderen bezwecken. Gleichmacherei schadet allemal. Ausgerechnet in angeblich fortschrittlichen Kreisen fehlt es an Einsicht, dass eine eigene Kultur aufzubauen unmöglich ist, indem man die gewachsene vernichtet.

Ein stetig ausgreifendes Problem ist die Erziehung in der frustrationsfreien (Non-frustration education) Ausprägung. Deren „Produkte" sind in den Augen von Lorenz neurotisch veranlagte, verwöhnte Jugendliche. Fehlender Wille zu Autorität bei Eltern und Lehrern, der mangelnde Kontakt zwischen Eltern und Kindern, die Dauerablenkung neuerdings durch SMS, Facebook und Twitter lassen nicht eine gefestigte, zukunftsfreudige Gemeinschaft erhoffen. Für eine funktionierende Gesellschaft und somit für eine leistungsfähige Wirtschaft werden große Teile der Jugend zum gesellschaftlichen Ballast, wenn sie es wegen fehlender Beschäftigungsmöglichkeiten nicht bereits sind.

7. „Indoktrinierbarkeit"

Der Zeitstrom der Wissenschaft und Wirtschaft führt zu mechanistischen Vorstelllungen.

Die Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch die vielen offenen und subtilen Kanäle hat ein hohes Maß an Uniformität mit sich gebracht. Doktrinen haben – so sein Befund – auf vielen Gebieten Einzug gehalten: Behaviorismus und Freudianismus oder die Modellwelten von Market Effiziency Hypothesis und Homo oeconomicus in den Wirtschaftswissenschaften. Wer sich dem Mainstream der Doktrinen entzieht, wird als pathologischer Außenseiter behandelt.

Lorenz spricht in diesem Zusammenhang von der „Versündigung an der Natur des Menschen". Harsche Kritik übt er am Vordringen von Big Science und kreidet die Überschätzung des Geltungsbereichs modischer Lehren an. Keine Sympathie hat er für die die Vorliebe der Amerikaner für handfeste, leicht verständliche, mechanistische Lehren. Nicht akzeptabel sind für ihn gleichermaßen mikro- und makroökonomische Lehren, die „ohne den Menschen" auskommen wollen. Die Hochschätzung der empirischen Wissenschaften schränkt die Aussagekraft wertvoller Forschungsansätze ein. Wo der Anteil der Mathematik und die Physikähnlichkeit Ausweis von Wissenschaftlichkeit sind, ist es um die Relevanz für die Praxis nicht gut bestellt.

Die überragende Rolle der Werbung für einen ständig wachsenden Konsum mit der ihn begleitenden Unkultur des Wegwerfens ist ihm suspekt; in seinen Worten: „Das lawinenartige Anwachsen von Produktion und Verbrauch aber ist nachweislich und zweifellos ebenso dumm wie schlecht – im ethischen Sinne des Wortes"(S. 96). In den „Großproduzenten" – sprich den (über-) großen Konzernen – sieht er eine Gefahr für die Demokratie, weil sie in der Lage und willens sind, die Massen zu vereinnahmen.

8. „Die Kernwaffen"

In den Kernwaffen (vor 40-50 Jahren) sah Lorenz die von allen „Todsünden" am ehesten beherrschbare und vermeidbare Gefahr. Den eigentlichen Schaden erblickte er in der damals verbreiteten Weltuntergangsstimmung.

Folgerungen für die Ökonomie

Neben seiner naturwissenschaftlichen Tätigkeit trat Konrad Lorenz als ein weitsichtiger und mutiger Gesellschafts- und Kulturkritiker hervor. Ihm war die so genannte Pseudo-demokratische Doktrin ein Horror. Denn die daraus folgende Instrumentalisierung und Konditionierung des Menschen befördern Entmenschlichung und Wertblindheit. Damit schwinden auch die Grundlagen zu einer kulturellen Höherentwicklung und moralischen Besserung. Der Wirtschaft liest er die Leviten: Exzessiver wirtschaftlicher Wettbewerb (der „kommerzielle Wettlauf mit sich selbst"), negative Selektion, Zerstörung von Vielfalt und Umwelt sind nicht zu rechtfertigen. Ein utilitaristisches Denken, das „Mittel zum Selbstzweck" macht und vergessen lässt, dass die Wirtschaft für die Menschen da ist und nicht umgekehrt, ist nicht zu verantworten.

Die Botschaften von Konrad Lorenz sind gleichermaßen Anklage gegen einen ungehemmten Kapitalismus und Aufruf zu einem menschengemäßen, werteorientierten Wirtschaften.

Titel der 110 Seiten zählenden Schrift, erstmals erschienen 1973 im Piper Verlag München. Ein bekanntes Werk, das sich auch mit dem Verhalten von Menschen befasste, war das 1963 erschienene „Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression" (Neuausgabe von 1998).