Nun hat also Siemens eine Frau im Vorstand. Fürwahr eine gute Nachricht für alle, denen das Wohl des Unternehmens am Herzen liegt. Zeigt es doch: Bei Siemens tut sich was, bei Siemens weht ein neuer Wind, bei Siemens gehen die Uhren jetzt anders. Herr Löscher macht offenbar Ernst mit seiner Ankündigung, im Unternehmen neue Saiten aufzuziehen, alte Zöpfe abzuschneiden und die Unternehmenskultur von Grund auf zu erneuern.
Bisher war der Karriereweg für eine Vorstandsposition bei Siemens ganz klar vorgegeben: Zuerst ein Studium der Elektrotechnik oder eines anderen technischen Fachs oder eine sogenannte Stammhauslehre im Unternehmen. Nach einigen Jahren der Betriebszugehörigkeit wurden die Führungskräfte in spe mit verschiedenen Aufgaben im In- und Ausland betraut. Wenn sie dort ihre Erfahrungen gesammelt, sich bewährt und ihre Führungsqualität unter Beweis gestellt hatten, kamen sie wieder in Stammhaus zurück und galten nun als potentielle Anwärter auf höhere und höchste Positionen bis hin zum Vorstand. Zu einem anderen Unternehmen zu wechseln kam einer Siemens-Führungskraft nicht in den Sinn, dafür war die Identifikation mit dem Unternehmen viel zu groß. Man lebte nach dem Grundsatz: einmal Siemens, immer Siemens. Warum wechseln, wenn das Unternehmen selbst so viele Wechselmöglichkeiten bietet?
Das ist unter der neuen Unternehmensführung deutlich anders geworden. Heute schon sind viele der obersten Führungspositionen mit sogenannten Quereinsteigern besetzt, also mit Personen, die mit der alten Siemens-Kultur nichts mehr gemein und deshalb wahrscheinlich auch nichts "am Hut" haben, weil sie beruflich ganz andere Wege gegangen sind. Wie zum Beispiel die neue und erste Frau im Vorstand, Barbara Kux. Sie begann ihre Karriere bei Nestlé, wechselte von dort zu McKinsey, ging von McKinsey zu ABB, von ABB wieder zurück zu Nestlé, von Nestlé zu Ford (zuständig für operationelle Synergien) und dann zu Philips.
Durch die Brille eines Siemensianers gesehen ist sie also genau das, was man heute „Company Hopper“ nennt. Damit ist jener Typus im Wirtschaftsleben gemeint, der seine Karriere von Anfang an genau plant und sie mit der Mentalität eines Söldners systematisch und konsequent verfolgt, vergleichbar einem jungen Fußballspieler, der in einem Zweitliga-Verein anfängt, sich dort durch Fleiß und Disziplin zu einem Spieler macht, der die Aufmerksamkeit der Talent-Scouts auf sich zieht und deshalb bald ein Angebot von einem Verein aus der Bundesliga erhält, dort weiter an sich und seinem Image arbeitet, bis er in einem Spitzenverein wie Bayern München spielt, um sich dort, sein Endziel nie aus den Augen verlierend, so zu profilieren, dass er ein Angebot von Real Madrid oder Manchester United erhält und damit das ist, was er immer werden wollte: ein Fußballstar in einem Weltklasseverein.
Es heißt, heute brauche man Führungskräfte mit gerade dieser Mentalität: flexibel, nicht auf ein einziges Unternehmen fixiert, fähig, sich jeder neuen Situation problemlos anzupassen, bestehende Bindungen aufzugeben und mit Elan neue Bindungen einzugehen. Wenn dem wirklich so ist, dann war die Entscheidung für eine Frau im Siemens-Vorstand auf jeden Fall richtig.
Herr Löscher sagt, Siemens sei zu weiß, zu deutsch und zu männlich, und ist deshalb bestrebt, den Konzern offener, flexibler und internationaler zu gestalten. Dass Siemens eine Frau mit internationaler Erfahrung und intimer Kenntnis so vieler unterschiedlicher Grossunternehmen in ungewöhnlich unterschiedlichen Funktionen wie Frau Kux in den Vorstand beruft, ist nur die logische Konsequenz aus dieser Erkenntnis.
Dass Siemens sie vom Konkurrenten Philips abgeworben hätte, wie in den Medien immer wieder zu lesen, gehört in den Bereich der "erfundenen Wahrheiten", wie sie im Journalismus des Öfteren einmal vorkommen, oder ist das Ergebnis gezielter Selbstdarstellung, eine der besonderen Stärken von Frau Kux. Siemens brauchte sie gar nicht von Philips abzuwerben, denn Frau Kux war schon wieder disponibel. Siemens war nur so klug, auf Anraten schnell zuzugreifen, hatte man doch so gleich drei Fliegen auf einen Schlag: Frau im Vorstand, erfolgreiche Chef-Einkäuferin und eine Beauftragte für Nachhaltigkeit.
Als CSO (Chief Sustainability Officer) ist also sie, die in ihrer bisherigen beruflichen Laufbahn eher das genaue Gegenteil praktiziert hat, verantwortlich für Nachhaltigkeit, also für ganzheitliches Denken, Kontinuität und das Denken und Handeln in der Langzeitperspektive. Im Unternehmen wird dennoch viel von ihr erwartet: "Wir setzen große Hoffnungen in sie", sagt Peter Löscher.
Schade nur, dass ihre erste große Ankündigung die war, die Verträge mit Tausenden von Zulieferern zu kündigen (die FAZ nennt die Zahl von 74000). Dafür, so sagt sich der am Geschehen im Siemens-Konzern teilnehmende Beobachter, hätte man doch nicht eine mit so hohen Vorschusslorbeeren bedachte und zur Selbstinszenierung neigende Frau einstellen und zum Vorstand machen müssen. Auf eine solche simple wie rigorose Rotstiftlösung wäre ein einfacher Siemens-Kaufmann wohl auch gekommen.
Stutzig macht auch die Tatsache, dass diese neue Vorstandsfrau, kaum drei Monate im Amt, einem externen Consulting-Unternehmen – wie man hört – einen Auftrag in Höhe von sage und schreibe 21 Millionen Euro erteilen wollte, um ihre Aufgabe ordentlich und zügig angehen zu können. Dass es sich bei diesem Unternehmen um McKinsey handelt, darf man wohl als reinen Zufall ansehen – es sei denn, man wollte unterstellen, dass es, wie immer wieder zu lesen, zum Geschäftsprinzip von McKinsey gehört, möglichst viele Mitarbeiter bei möglichst vielen Unternehmen in möglichst hohe Positionen zu bringen, um durch ein gut organisiertes und gut gepflegtes Alumni-Netzwerk aus diesen Unternehmen immer wieder neue Aufträge zu erhalten.
Pech für McKinsey, dass in diesem Fall aus dem Deal nichts wurde. Siemens galt jahrelang als das am intensivsten beratene Unternehmen in Deutschland – mit zweifelhaftem Erfolg: Der Niedergang der einst so erfolgreichen Kommunikationssparte, Herzstück der bisherigen Siemens AG, war nach dem Urteil von Kennern der Zusammenhänge in nicht unwesentlichem Maße mit diesen Beratungen verbunden. In den Medien verwies man deshalb auch auf den bekannten Buchtitel "Beraten und verkauft".
Zu Beginn des von großem Brimborium begleiteten Wirkens von Frau Kux gab es bei Siemens einen Vorstandsbeschluss, keine Beratungsaufträge mehr an externe Firmen zu vergeben. Siemens besann sich wohl darauf, dass es über eine hauseigene Consulting-Abteilung verfügte, die in guten Zeiten mit einer Mannschaftsstärke von 200 Leuten aufwartete: wohl die größte Strategieberatungsgruppe in einem Industrieunternehmen weltweit.
Ob die neue Frau im Vorstand diesen Vorstandsbeschluss nicht kannte – eine Ignoranz, die bei Quereinsteigern, die ihr neues Unternehmen nicht kennen, nicht selten zu beobachten ist – oder ob sie glaubte, sich eigenmächtig darüber hinwegsetzen zu können – eine ebenfalls für Quereinsteiger nicht untypische Arroganz –, kann dahingestellt bleiben. Fakt ist jedenfalls, dass McKinsey das Nachsehen hatte.
Offensichtlich aber nicht ganz. Völlig irritiert ist man nämlich, wenn man hört, dass McKinsey-Leute in kleinerem Maße und sozusagen undercover, der für den globalen Einkauf verantwortlichen Vorstandsfrau behilflich sind. Da fragt man sich doch: Sind die Siemens – Berater im eigenen Haus wirklich nicht kompetent genug oder wirken da andere Kräfte mit? Im ersteren Fall wäre es ein Armutszeugnis für die hauseigene Consulting-Abteilung, trifft das Letztere zu, wäre es ein Fall für Corporate Governance, weil hier die Glaubwürdigkeit der Unternehmensführung auf dem Spiel steht.
"Gleich als sie zu uns kam, war sie schon mehr McKinsey als wir!" sagte man bei McKinsey über Frau Kux. – Und bei Siemens?
10. Juli 2009