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Der ‚Ehrbare Kaufmann‘ ist eine soziale Norm, die ihren Ursprung im Geschäftsleben des mittelalterlichen Norditaliens und in dem norddeutschen Städtebund der Hanse hatte. Die in das Milieu von Kaufleuten eingebetteten Verhaltensregeln haben sich über Jahrhunderte bewährt.
Aber unsere Zeit hat zu einem großen Teil keine überschaubaren Räume mehr, sondern ganz andere Verhältnisse: eine Wirtschaft mit global tätigen Unternehmen, mächtigen staatlichen Akteuren, mit Digital Playern, Handelsketten, Franchise- und Plattformkonzernen – und das zwischen rivalisierenden Wirtschaftssystemen; und mit Wirtschaftstreibenden, die in Metropolen, Steuerparadiesen ansässig, sich als "Anywhere‘s“ sehen.
Persönliche Beziehungen haben keine so große Bedeutung mehr wie früher. Zuverlässigkeit, Verantwortungsbewusstsein, Handschlagqualität wurden in der Regel von umfänglichen Vertragswerken abgelöst. In Abhängigkeit von Marktmacht wird versucht, fast jedes nur mögliche Haftungsrisiko auszuschließen. Diesbezügliche vertragliche Regelungen werden von einem gewucherten Parabusiness bewerkstelligt, vornehmlich von international tätigen Großkanzleien. Zertifizierungsagenturen begleiten überdies die Geschäftstätigkeit mit sattem Honorar. Von den Handelnden hat sich das Erfordernis der Rechtmäßigkeit und vertrauensvoller Beziehung zu schwer durchschaubaren, unpersönlichen Beziehungen wegbewegt.
Die früher in weiten Teilen vorherrschende Kultur des Vertrauens ist zusehends wachsendem Misstrauen gewichen. Bisweilen kommt es zu Verhaltensregeln (Collective actions). Die in jüngerer Vergangenheit stark gewachsenen Compliance und Corporate Governance-Regelwerke - im Nachgang großer Wirtschaftsskandale haben bürokratische Hürden für nicht legales Verhalten errichtet, die Legitimität aber nicht gestärkt und ethisches Verhalten nicht befördert. Die vielen neu geschaffenen Ethiklehrstühle und -programme haben im Wesentlichen eine Alibifunktion.
Gerade darum ist und bleibt es ein zentrales Anliegen, Integrität im Handeln von Unternehmen zu stärken und dort, wo sie verletzt wird und verloren gegangen ist, wieder herzustellen. Wie mit Anstand und Ehrlichkeit im Privaten, beginnt Integrität im Geschäft beim einzelnen Unternehmen. Und wie man im Privaten fragwürdigen Personen aus dem Wege gehen soll, gilt das im Geschäftsleben für vertrauensunwürdige Unternehmen, sogenannte evil companies.
Mit der Bindung an die handelnde Person hat das Gebot des ‚Ehrbaren Kaufmanns‘ einen zeitlosen Kern, der von der Unternehmensspitze vorzuleben und im Unternehmen zu verankern ist. Nur so wird ‚Verantwortungsvolle Unternehmensführung‘ möglich. Compliance und Governance müssen darauf setzen, können sie aber nicht ersetzen.
Dazu:
Denkschrift Nr. 20: Gegen die Aushöhlung von Moral – Was Unternehmen dagegen tun können (9/2016)
Denkzettel Nr. 35: Der Ehrbare Kaufmann Reloaded – Zwischen Ehre und Kalkül (9/2014)
Denkschrift Nr. 40: Ohne Integrität kein Vertrauen – Grundlagen einer gesellschaftsförderlichen Unternehmensführung. (10/2020)