DE | EN
Wertschöpfung & Innovation
Einsicht Nr. 3
20.09.2012

Hat die Produktion in Deutschland Zukunft?

von Bodo Eidenmüller

 

 

Mit der These von der postindustriellen Gesellschaft war lange Zeit eine Geringschätzung der Produktion verbunden. Die Abwanderung industrieller Arbeitsplätze wurde als logische Konsequenz der Globalisierung hingenommen, Outsourcing insbesondere von Großunternehmen seit den 1990er-Jahren aktiv betrieben. Mit der gegenwärtigen Wirtschaftskrise kam das Erwachen - in all den Ländern, die sich am weitesten in Richtung Dienstleistungsökonomie bewegt und die Produktion vernachlässigt hatten: Die USA, Großbritannien, Frankreich. Damit in Deutschland die Produktion ihre zentrale Funktion für Beschäftigung, Wohlstand und Wachstum behält, braucht es gemeinsame Anstrengungen von Wirtschaft und Gesellschaft. 

Deutschland – klassisches Industrieland und hochwertiger Produktionsstandort

Deutschland lebt bislang im Wesentlichen von gewerblicher sowie industrieller Verarbeitung. Dabei ist die Produktion bis heute der zentrale Treiber für Wertschöpfung und Beschäftigung. Den Daten des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung zufolge findet sich in keinem anderen Industrieland ein vergleichbar hoher Anteil der direkt oder indirekt von der Produktion abhängigen Arbeitsplätze (ca. 14,4 Mio.) und der Wertschöpfung (ca. 37 Prozent der Gesamtwirtschaft).

Die große Zahl der Erwerbstätigen, die in Deutschland im Vergleich zu anderen westlichen Industrienationen im produzierenden Gewerbe arbeiten, ist vor allem auf den in Deutschland immer noch hohen produktionstechnischen Standard, ein weltweit anerkanntes Ausbildungssystem und auf die qualifizierten Fachkräfte zurückzuführen. Hinzu kommt, dass es gelang, die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Universitäten und Hochschulen besser als jede andere Nation in die Unternehmen zu integrieren. Die Industrie wird heute getragen von anwendungsorientierter Forschung, von der Produkt- und Prozessentwicklung, von der Produktherstellung und von produkt- und produktionsnahen Dienstleistungen.

Abnahme der Arbeitsplätze in der Produktion

Der Strukturwandel in den Märkten, in Wirtschaft, Technik und Gesellschaft führte in den letzten Jahrzehnten zu beachtlichen Veränderungen - auch in der Produktion. Von 1970 bis 2008 ging die Anzahl der Erwerbstätigen im Produzierenden Gewerbe zurück, und zwar von 37,9 Prozent auf 19,9 Prozent aller Beschäftigten. Im gleichen Zeitraum stieg der Anteil der Erwerbstätigen in den Dienstleistungsbereichen von 45,1 Prozent auf 72,5 Prozent.

Als Gründe für den Rückgang der Produktionsarbeitsplätze werden genannt:
Verlagerung von Produktionen ins Ausland, Aufgabe von Industriezweigen und von Unternehmen sowie Rationalisierungs- und Automatisierungsmaßnahmen, vor allem aber auch der Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft. Der Strukturwandel führte auch dazu, dass die Bedeutung der Produktion für den Wirtschaftsstandort Deutschland und die Notwendigkeit, hier zu fertigen, infrage gestellt wurde. Es wird betont, dass das Hochlohnland Deutschland auf dem Gebiet der Massen- und der Serienproduktion in einer globalisierten Welt keine Chancen hat, mit Wettbewerbern aus Ostasien oder Osteuropa zu konkurrieren. Deutschland ist als Produktionsstandort durch die aufstrebenden Schwellenländer unter enormen Druck geraten. Zudem hat die deutsche Industrie mit erheblichen Wettbewerbsnachteilen zu kämpfen.

Um uns in der globalisierten Welt auch künftig zu behaupten, müssen wir uns - so wird argumentiert - auf Leistungen konzentrieren, die „einstweilen" in Asien noch nicht erbracht werden. Dies erfordert eine stärkere Orientierung Deutschlands auf Hightech-Produkte, auf Forschung, auf Spitzen-Technologien und auf Ausbildung. Es stellt sich daher die Frage: Hat die Produktion in Deutschland (noch) eine Zukunft?

Die These von der postindustriellen Gesellschaft

Aus den Veränderungen in der Erwerbstätigenstatistik darf kein Rückschluss auf eine abnehmende Bedeutung der Produktion für die deutsche Wirtschaft gezogen werden. Die statistische Aufteilung der Wirtschaft in drei Sektoren, den primären oder Agrarsektor, den sekundären oder Warenproduzierenden Sektor und den tertiären oder Dienstleistungssektor verleitet zu der Vorstellung, dass diese Sektoren mehr oder weniger abgegrenzt existieren. Das ist falsch. Jede Volkswirtschaft bildet ein komplexes System - ein Beziehungsgeflecht innerhalb der Sektoren, aber auch zwischen den Sektoren. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Trotzdem findet sie nicht genügend Berücksichtigung.

Geht man den Ursachen für das hohe Wachstum des tertiären Sektors in den letzten Jahrzehnten nach, so wird deutlich, dass die wichtigsten Triebkräfte für die rasche Ausweitung der Dienstleistungsbereiche nicht von den privaten Haushalten ausgehen, sondern vor allem aus dem Produktionsbereich kommen. Die zunehmende Komplexität der von der Industrie erzeugten Systeme und Anlagen führte und führt zu einem überproportional wachsenden Bedarf an Software und anderen Dienstleistungen. Die Verknüpfung eines industriellen Produkts mit dazugehörigen Dienstleistungen ist ein zentraler Trend der modernen Industrieproduktion. Längst wird nicht mehr nur das nackte Produkt verkauft, sondern die komplette Problemlösung, bei der der Anteil der Software gegenüber der Hardware laufend an Bedeutung gewinnt. Die Software-„Produktion" ergänzt bzw. verdrängt die Herstellung von Hardwareprodukten. Hinzu kommt, dass Industrieunternehmen früher selbsterstellte Dienstleistungen aus ihrem Produktionsbetrieb ausgegliedert und auf andere Unternehmen übertragen haben. Leider werden die gegenseitigen Abhängigkeiten oft nicht erkannt und unterstellt, dass im Produktionsbereich nur gefertigt wird. Die engen Verknüpfungen von Entwicklung, Fertigung und Logistik werden unterschätzt und nicht gesehen. Viele Fälle von unbedachtem Outsourcing belegen dies.

Die These, dass wir in einer postindustriellen Gesellschaft leben, ist ein Irrtum. Nicht zuletzt wegen der hohen Außenhandelsüberschüsse stieß die Über-Industriealisierung auf Kritik und es war die Rede von einer großen Dienstleistungslücke. Es kam die Forderung auf, auf einen Teil der industriellen Basis zu verzichten und stattdessen die Dienstleistungen forciert auszubauen. „Blaupausen" statt Güter hieß die Parole so mancher Experten. Das ist ein Trugschluss.

Bei einer Trennung von Produktentwicklung und Fertigung würde ein Unternehmen bewusst auf das für eine Prozessoptimierung immer wichtiger werdende „Simultaneous Engineering" und damit auch auf die für den Markterfolg entscheidende Verkürzung der Durchlaufzeiten verzichten. Hinzu kommt: Wer nur Blaupausen oder Dienstleistungen verkauft bzw. exportiert, büßt zwei entscheidende Voraussetzungen ein, die für einen dauerhaften Markterfolg wichtig sind: Erstens verliert er seine Kenntnisse in der Produktionstechnik und zweitens reißt die Verbindung zum Endabnehmer, zum Kunden, ab. Die Lernschleife für die nächste Produktgeneration ist unterbrochen.

Eine Technologie, die nur auf dem Reißbrett bzw. am Computer entworfen und nicht in der Praxis getestet wird, lässt sich nur schwer verkaufen. Auf eine Kurzformel gebracht heißt das: Eine Blaupause kann keinen Prototyp ersetzen und ein Prototyp kein Produkt, das in größerer Stückzahl wirtschaftlich hergestellt wird. Forschung und Entwicklung zahlen sich in der Regel nur aus, wenn man ihre Ergebnisse selbst in konkurrenzfähige Erzeugnisse umsetzt. Dafür ist das Beherrschen moderner Produktionstechnologien unabdingbar. Dass fehlendes Know-how in der Fertigungstechnik die Überlegenheit in der Produkttechnologie unterminiert, lässt sich an zahlreichen konkreten Fällen nachweisen. Vorteile in der Produkttechnologie lassen sich nicht verteidigen ohne konkurrenzfähige Fertigungstechniken, innovative Werkstofftechnologien und ohne die dazu erforderlichen Menschen, Maschinen und Anlagen.

Wir befinden uns daher nicht auf dem Wege von der Fertigungs- zu einer reinen Dienstleistungsgesellschaft, sondern auf dem Weg von einer industriellen Wirtschaft zu einer anderen, in der die Produktion mit ihren produkt- und produktionsnahen Dienstleistungen ein Garant unseres Wohlstandes ist.

Produktion: unverzichtbar für Beschäftigung, Wohlstand und Sicherheit

In Großbritannien erleben wir zu Zeit den Ruf nach einer Renaissance der Produktion. Das alte Labour-Mantra von der Dienstleistungsgesellschaft ist nicht mehr sakrosankt. Wirtschaftsminister Peter Mandelson tritt für eine Umkehr zu den alten Tugenden des produzierenden Gewerbes ein. „Für die Zukunft braucht Großbritannien eine Ökonomie, die weniger auf Finanz-Konstrukteure als auf wirkliche Ingenieure setzt," fordert der ehemalige EU-Handelskommissar. Auch die 1989 veröffentlichte MIT-Studie „Made in America" wies bereits darauf hin, dass man nicht davon ausgehen darf, dass die USA allein mit Dienstleistungen einen Handelsüberschuss erzielen könnten, um damit den gewaltigen Bedarf an importierten Fertigwaren zu decken. Die Fragilität der amerikanischen Wirtschaft kommt in dem geringen Beitrag des Produktionssektors von nur mehr 14 % (2007) zum Bruttoinlandsprodukt zum Ausdruck. In den USA ist die Ernüchterung über die katastrophalen Folgen der Geringschätzung von Produktion während der letzten 40 Jahre eingetreten. Das frühere schwunghafte Outsourcing wird zunehmend als Fehler gesehen. Die enorme Auslandsabhängigkeit in der Produktion wird nun als Problem der nationalen Sicherheit erkannt. Auch der französische Präsident Sarkozy versucht zur Zeit gegen die anhaltende De-Industrialisierung Frankreichs durch Vergabe von Staatsmitteln in die Bereiche Bildung, Forschung, kleine und mittlere Unternehmen, digitale Entwicklung und nachhaltige Entwicklung anzugehen.

In Deutschland sollte man sich ebenfalls mit den Konsequenzen einer De-Industrialisierung beschäftigen und sich Gedanken machen über ihre Auswirkungen, die von der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen werden. Jüngstes Beispiel ist die Aufgabe der „Schwachstromsparte" von Siemens. Als Siemens 2007 die Netzwerksparte seiner Nachrichtentechnik in ein Joint Venture mit Nokia einbrachte, fand dieser Schritt in der Öffentlichkeit hinsichtlich seiner Auswirkungen für den Wirtschaftsstandort Deutschland kaum Beachtung. Spätestens nach Aufgabe der Telefonsparte sowie der Computertechnik hätten diese Entscheidungen von Siemens nachdenklich stimmen müssen. Der Pionier der Nachrichtentechnik hat sich von seiner einstigen Stärke sukzessive verabschiedet. So verschwand ein wichtiger Teil von Hightech aus Deutschland - einer mit ganz besonders viel Tradition und vor allem mit vielen Arbeitsplätzen. In jüngster Zeit drängen auch Branchen mit der Produktherstellung, aber auch mit Entwicklungsarbeiten verstärkt ins Ausland, die das Rückgrat des Exportes sind, namentlich die Automobilindustrie.

Angesichts der derzeitigen Finanz- und Wirtschaftskrise, die vor allem die exportorientierte Industrie Deutschlands getroffen hat, wird zunehmend Kritik an dem industrie- und produktionsorientierten Wirtschaftsmodell Deutschlands geübt. Kritisiert werden die Exportlastigkeit der deutschen Wirtschaft und die chronische Schwäche der Inlandsnachfrage. Die deutsche Industrie ist spezialisiert auf die Entwicklung und Herstellung dauerhafter industrieller Güter, insbesondere auf Investitionsgüter. Dazu gehören nicht nur die großen Automobilhersteller mit ihren Zulieferern oder die Unternehmen der elektrotechnischen und chemischen Industrie, sondern vor allem die große Zahl mittelständischer Unternehmen aus dem Maschinenbau, die bei spezialisierten Segmenten oft Weltmarktführer sind.

An der Exportlastigkeit der Bundesrepublik kann und soll man auch kurzfristig nichts ändern. Der Export ist und bleibt die wichtigste Stütze für den Konjunkturaufschwung. Eine wirtschaftliche Neuorientierung hin zur Reduzierung des Exportanteils der „alten" Industrien und Hinwendung allein auf Hightech würde die Vorteile des deutschen Wirtschaftsmodells und damit die Stärken deutscher Unternehmen in den „reifen" Industrien mit allen ihren Konsequenzen ignorieren. Die ständigen Bemühungen, ein gutes Produkt oder einen guten Prozess noch besser zu machen, spielen hier eine entscheidende Rolle bei der Steigerung von Effektivität und Effizienz und der Entwicklung forschungsintensiver Produkte und wissensbasierter Dienstleistungen.

Fehlende Vorwärtsstrategie in Hightech

Eine Orientierung Deutschlands allein auf Spitzentechnologien, wie die Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT), die Bio- und Optischen Technologien oder die Nanotechnologie, die zwar international hohe Wachstumsraten erwarten lassen, kann die Wachstums- und Beschäftigungsschwächen der exportorientierten Industriesparten wie Maschinenbau, der Automobilindustrie, der Elektrotechnischen oder der Chemischen Industrien heute nicht kompensieren. Hinzu kommt, dass z. B. im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnik eine gravierende Schwäche Deutschlands liegt und es großer Anstrengungen bedarf, um zu dem Vorsprung amerikanischer und asiatischer Unternehmen aufzuschließen.

Deutschland nimmt bei der IKT, die eine der wichtigsten Schlüsseltechnologien ist, im weltweiten Vergleich der Industrieländer nur eine mittlere Position ein. Gerade ein Land, das bei der ökologischen Neugestaltung von Industrie, Verkehrs- und Energiesystemen zu den Vorreitern (und Nutznießern) zählen will, kann nicht bei dieser Schlüsseltechnologie, ohne die dieser Umbau undenkbar ist, den Nachzügler spielen. Nach dem Ausstieg von Siemens aus der Nachrichtentechnik gibt es nur noch wenige deutsche Unternehmen wie die Deutsche Telekom oder SAP, die als Global Player bezeichnet werden können. Allerdings verfügen international starke Unternehmen wie Siemens über eine beachtliche Inhouse-Software-Kapazität. In der „Internationalen Delphi-Studie 2030" hat über die Hälfte der befragten deutschen Experten auf die Frage, wann Deutschland die Software-Kompetenz der USA wettmachen kann, mit „wahrscheinlich nie" geantwortet. Wer hier das Aufholen als unrealistische Möglichkeit ansieht, der sollte daran erinnert werden, wie kurzfristig die Entwicklungen in den Informations- und Kommunikationstechnologien verlaufen sind. Wer hätte vor zehn Jahren die heutige Welt des Web 2.0 auch nur geahnt?

Die Konzentration auf Spitzentechnologien und auf Wachstumssparten ist ein wichtiger Schritt, damit sich Deutschland auch künftig auf dem Weltmarkt erfolgreich behaupten kann. Schon aufgrund der hohen Arbeitskosten, der demografischen Entwicklung sowie mangelnder natürlicher Ressourcen wird sich das Land weiter auf die Produktion und Veredelung von Wissen spezialisieren müssen. Innovation muss, wie in den fruchtbarsten Phasen wirtschaftlicher Entwicklung, zur Kernkompetenz werden. Mehr denn je ist Innovation unverzichtbar für individuellen Unternehmenserfolg.

Institutionen der Ausbildung und Erziehung werden in der Wissensgesellschaft immer wichtiger. Die deutschen Bildungseinrichtungen sind bislang nur unzureichend auf die Herausforderungen der Wissensgesellschaft („Lebenslanges Lernen") vorbereitet, ebenso die Führungskräfte der Wirtschaft. Sie müssen sich der neuen Herausforderung stellen, und zwar der Erhöhung der Produktivität der Dienstleistungen und der wissensbasierten Arbeit. Dieses Ziel erfordert neue Konzepte und neue Denkansätze und kann nur auf dem Weg der Partnerschaft in den Unternehmen erreicht werden.

Bedarf an einfachen Arbeitsplätzen - trotz Hightech

Man muss aber auch anerkennen, dass der Weg in die Wissensgesellschaft zum Ausschluss Vieler aus der modernen Arbeitswelt führen kann. Es entstehen Tätigkeiten, die im gesteigerten Maße auf Wissen, jedenfalls auf dem Umgang mit Informationen beruhen. Die Talente der Menschen sind jedoch unterschiedlich, und viele haben nicht die Ausbildung, Informationen nicht nur als Instrument der Anwendung, sondern als Quelle neuer Lösungen einzusetzen.

Wenn man das Wissen und die Hochqualifizierung der Menschen zur wesentlichen Ressource unseres Landes erklärt, dann macht man die angelernte Arbeit allerdings zum Auslaufmodell - und dies in einer Zeit, in der die Arbeitsmarktpolitik höchste Priorität hat. Die Arbeitstugenden, die in der einfachen Produktion zum Zug kommen und die lange Zeit ganz fraglos Anerkennung fanden, werden dann entwertet.

Die Aufteilung der Arbeit (Taylorismus) ermöglichte den Einsatz einer großen Anzahl gering qualifizierter Menschen in der Industrie und führte im zwanzigsten Jahrhundert durch die Erfolge der Massenproduktion zu Wachstum und Blüte der Industrienationen. Hier müssen die Reaktionen derjenigen, die den Verlust des Industriestandorts Deutschland bei einfachen Arbeiten, wie z. B. seinerzeit bei AEG in Nürnberg oder Nokia in Bochum, bedauerten, kritisiert werden. Diejenigen, die quer durch alle politischen Lager die Werksschließungen bei AEG und Nokia beklagten, haben seit Langem eine Vision des Landes gepflegt, in der für einfache Arbeiten kein Platz mehr ist. Auf Dauer kann jedoch kein 80-Millionen-Land es sich leisten, alle weniger qualifizierten Arbeiter vor die Tür zu setzen und zu alimentieren. Um Arbeitslosigkeit bei einfachen Tätigkeiten in Grenzen zu halten, müssen daher die Anstrengungen darauf gerichtet sein, auch die Produktion von einfachen Produkten und einfachen Arbeiten in Deutschland zu halten. Gefragt sind Arbeitsmodelle, in denen auch weniger qualifizierte Arbeitskräfte integriert werden können. *

Herausforderungen für Wirtschaft, Staat und Gesellschaft

Die Zukunft der Produktion ist eng verknüpft mit der Zukunft der Industrie in Deutschland. Die Chancen der Industrie liegen nicht nur in Innovationen und der Anwendung von Hochtechnologien in Wachstumssparten, sondern auch in Innovationen und der Stärkung der Wettbewerbsposition in den „reifen" Industrien.

Die Anstrengungen müssen darauf gerichtet sein, die deutsche Wirtschaft auf breiter Front in die neuen Hochtechnologien und Informationsdienstleistungen zu führen. Dazu sind hohe F&E-Aufwendungen zielgerichtet in die Trends der Zukunft, in Gesundheit, Energie, Umwelt, Mobilität und Sicherheit erforderlich. So primär die Rolle der Unternehmer hier ist, sie brauchen darüber hinaus für den notwendigen massiven Vorstoß in die neuen Technologien ein umfassendes Zusammenwirken mit dem Staat, eine mutige Industriepolitik sowie eine staatlich finanzierte Forschung.

Deutschland zählt zu den innovativsten Volkswirtschaften. Dieser Erfolg ist allerdings kein Selbstläufer. Damit es so bleibt, sind auch mit dem Blick auf die Auswirkungen des demographischen Wandels weiter Anstrengungen aller am Innovationsprozess beteiligter Akteure notwendig. Bei Produkt- und Prozessentwicklungen im Hochtechnologiebereich spielen die jeweiligen Kernkompetenzen und die fachliche Ausbildung eine entscheidende Rolle. Neue Ideen führen aber nicht automatisch zu neuen Produkten. Es braucht Unternehmer, die die Marktpotenziale erkennen und umsetzen.

In den „reifen" Industrien müssen die Unternehmen bei der Herstellung von Investitionsgütern ihre Stärken nutzen und ihre Schwächen ausgleichen. Eine weitere Ausrichtung auf den Weltmarkt ist für Deutschland unverzichtbar. Durch Innovationen, durch Einsatz neuer Technologien und innovativer Produktionstechniken wie „Green Production Technologies" können die bestehenden Wettbewerbsvorteile ausgebaut werden. Auch bei der Hinwendung zu neuen Anwendungstechnologien behält die Produktionstechnik ihre Funktion als Querschnitts- und Schlüsseltechnologie.

Die Herstellung jedweder Produkte - vom anspruchsvollen und hoch innovativen Hightech-Produkt bis hin zum einfachen Lowtech-Erzeugnis - basiert auf dem Vorhandensein entsprechender Produktionstechnologien, deren Spektrum vom kompletten Fabriksystem bis hin zur einzelnen Bearbeitungsmaschine reicht. Produktionstechnische Entwicklungen für neue Produkte können allerdings nicht immer allein als Selbstläufer erfolgen. Zu groß sind oftmals die Kosten und Risiken, vor allem für kleine und mittelständische Unternehmen. Daher ist auch hier staatliche Wirtschafts- und Innovationspolitik gefordert, die weit stärker als bisher produktionstechnische Entwicklungen fördern sollte. Darüber hinaus kann nicht oft genug betont werden, dass ein erfolgreicher Ausbau der produktionstechnischen und wirtschaftlichen Kompetenz in Deutschland unmittelbar abhängig ist von der Weiterentwicklung des Bildungssystems.

Die Hochschulen und Universitäten haben im Innovationsprozess eine doppelte Verantwortung. Sie dienen einerseits als Ausbildungsstätte für kreatives F&E-Personal und sind andererseits Impulsgeber, Forschungseinrichtung und Kooperationspartner. Leider weist im internationalen Vergleich Deutschland einen relativ niedrigen Anteil an Hochschulabsolventen, insbesondere in Natur- und Ingenieurwissenschaften, auf. Eine Steigerung der Attraktivität und des praxisorientierten Ausbaus der Ingenieurausbildung sollte das Ziel sein. Hier sind die Politik und Gesellschaft gefordert: Es muss uns gelingen, unser Potenzial für universitäre Bildung besser auszuschöpfen. Dabei spielt das gesellschaftliche Innovationsklima eine wichtige Rolle. Das Innovationsklima hängt wiederum von der Einstellung der Politik, der Menschen, der Verbände und der Öffentlichkeit zur Wissenschaft, Technologie, Forschung und Entwicklung ab. Es sei daran erinnert, dass z. B. die Mikroelektronik als Basistechnologie, ohne deren Beherrschung wir alles andere, was darauf aufbaut, auch nicht beherrschen würden, in Deutschland lange Zeit als Jobkiller verteufelt wurde. Heute sehen wir, welche Auswirkungen diese Meinungsmache für unsere Volkswirtschaft hatte.

Managementfehler der letzten Zeit bestätigen, wie wichtig für eine industrielle Produktion kreative Unternehmer sind. Risikobereitschaft und Querdenken, Entscheidungskraft und Ausdauer, technisches Wissen und kaufmännisches Talent sind gefragt. Diejenigen, die in Führungsverantwortung stehen, müssen fähig sein, durch klare Informationen Orientierung zu geben, die Ursachen notwendiger Veränderungen zu erklären und anstehende Konsequenzen nachvollziehbar zu begründen. Vielen Führungskräften in den Unternehmen fehlen diese Voraussetzungen. Sie haben auch kaum Produktionserfahrung, sehen die Produktion als Kostenfaktor und erkennen nicht, welche Bedeutung die Produktion als Wettbewerbsfaktor hat bzw. haben kann. Wenn „Made in Germany" wieder die Bedeutung erlangen soll wie in der Vergangenheit, dann müssen Qualität und Flexibilität entsprechende Zielvorgaben sein; und es müssen neben der Produktionstechnik auch die Produktionswirtschaft und die Arbeitsorganisation einen hohen Stellenwert in den Unternehmen haben.

Gering qualifizierte Mitarbeiter brauchen Beschäftigung

Einfache Produkte und gering qualifizierte Mitarbeiter sollten ebenfalls eine Chance in der Produktion erhalten. Hier muss der Spagat gelingen zwischen internationaler Wettbewerbsfähigkeit und heimischer Beschäftigung. Der Schlüssel dafür ist und bleibt die qualifizierte Ausbildung. Wo die Qualifizierung nicht oder nur zögerlich gelingt, sollte über Elemente des Kombilohns ein sozialer Ausgleich gewährt werden. Auch die Gewerkschaften müssen akzeptieren, dass man in der Zeit der Globalisierung nur um so viel teurer sein kann, wie man besser ist. Der Wettbewerbsvorteil wird heute vor allem in der Reduzierung der Kosten gesehen. Dabei wird das Potenzial zur Produktivitätsverbesserung durch Prozessoptimierung, durch Verbesserung der Arbeitsorganisation sowie von Flexibilität und vor allem von Qualitätsverbesserungen unterschätzt.
Bei Automatisierungsvorhaben sollen produktionswirtschaftliche Überlegungen hinreichend beachtet werden: Nicht so viel Automatisierung wie möglich, sondern so viel Automation wie nötig. Der Mensch ist immer noch das flexibelste Element in jeder Fertigung. Die Umsetzung dieses Gedankens verlangt eine ausreichende Bereitschaft der Mitarbeiter und der Arbeitnehmervertretungen, flexible Lösungen zu gestalten, und setzt eine vertrauensvolle Unternehmenskultur voraus. Und es sind Führungskräfte gefragt, die Mitarbeiter zu laufenden Verbesserungen motivieren und Produktion als lernende Organisation aufziehen.

Zukunft von Produktion erfordert Konzepte und Engagement

Die deutsche Wirtschaft ist durch Industriearbeit stark geworden. An der Industrie mit ihrer Produktion hängt unser Wohlstand wie an keinem anderen Sektor. Die Auswirkungen der Globalisierung und auch die derzeitige Wirtschaftskrise sind Anlass, über die Gefahr der De-Industrialisierung und damit über die Zukunft der Produktion in Deutschland ernsthaft zu diskutieren.

In Deutschland fehlen noch Visionen, Ziele und Strategien, damit die Produktion auch weiterhin Treiber für Wertschöpfung und Beschäftigung ist. Die Politik, die Wirtschaft und die Öffentlichkeit müssen sich der Bedeutung der Produktion als robuster Kern für unsere Volkswirtschaft bewusst sein, die Herausforderungen annehmen und gemeinsam danach handeln. Es ist höchste Zeit, sich mehr den Kopf darüber zu zerbrechen, wovon wir künftig leben wollen - und welche Konsequenzen für unsere Gesellschaft daraus zu ziehen sind.

Prof. Dr. B. Eidenmüller, 16. März 2010

 

* Ein hoher Bedarf bei „einfachen" Arbeiten besteht zusätzlich bei personenbezogenen Diensten, insbesondere bei den Pflege- und Gesundheitsdiensten. Der Gesundheitssektor ist das Stiefkind der Dienstleistungsgesellschaft. Leider finden wir bei Human-Dienstleistungen zu wenig deutsche Mitbürger, die in der Pflege und im Gesundheitswesen arbeiten wollen. Die Beschäftigungsverhältnisse im Pflege- und Gesundheitssektor sind daher dringend verbesserungsbedürftig. Ein Bedarf besteht darüber hinaus auch bei anderen personenbezogenen Dienstleistungen wie Hilfen im Haushalt, Betreuung und Unterstützung älterer Menschen. Einen weiteren Bedarf gibt es auch in den Unternehmen für zahlreiche Hilfsaufgaben wie Botendienste, Besucherbetreuung, Aufräum- und Ablagearbeiten. Diese in den letzten Jahren wegrationalisierten Aufgaben bilden eine nützliche Beschäftigungsmöglichkeit mit dem Effekt, dass die immer knapper werdenden Hochqualifizierten entlastet werden. Schließlich lassen sich auch im kommunalen Bereich viele Aufgaben finden, die den „Bürgerservice" verbessern helfen.
Die Umsetzung in zusätzliche Arbeitsplätze scheitert jedoch auch an den Lohnkosten. Außerdem bestehen aufgrund der umfassenden sozialen Sicherungssysteme in Deutschland zu geringe Anreize, einfachen Tätigkeiten nachzugehen.