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Wertschöpfung & Innovation
Denkzettel Nr. 45
08.02.2016

"Industrie 4.0" - Ein Blick hinter den Hype

von Andreas Seidel

 

 

"Wenn du es eilig hast, lass dir Zeit", sagt Konfuzius. Wenn wir jetzt keine Zeit zum Nachdenken mehr haben, werden wir verlieren".(1) Dieses Zitat passt zum Thema Digitale Transformation. Täglich erscheinen Dutzende neue Beiträge zu den Themen Internet der Dinge, Industrie und Logistik 4.0, zu 4. Industrieller Revolution; in Newslettern, Studien oder auf den Homepages von Unternehmen und Institutionen und in Mediensendungen. Sogar von einer neuen kopernikanischen Wende ist die Rede(2). Unisono beschwören sie: „Ihr müsst es einführen, sonst habt ihr im Kampf um die Zukunft verloren.“ Doch was soll da sogleich eingeführt werden?

Informationelle Überlast als Normalzustand

Wir befinden uns in einer Situation des Information overload. Der amerikanische Soziologe Richard Sennet schrieb bereits 2005 dazu: „Die durch moderne Technologien erzeugte Informationsflut droht deren Adressaten in Passivität versinken zu lassen. Eine Überfülle an Information ist kein nebensächliches Problem.“(3)

Neue Technologien, visionäre Geschäftsmodelle und neue Organisationsformen, Phantasien über den Mitarbeiter von Morgen, Aspekte von Software, Algorithmen oder Überlegungen zur Sicherheit vor Cyberrisiken vermischen sich gegenwärtig zu einem Bild, das es immer schwieriger macht, fundierte Entscheidungen zu treffen. Der Informationsinfarkt wird zu einem Entscheidungsnotstand.

Der Versuch, das Spektrum der Beträge systematisch darzustellen, sprengt jeden Rahmen. Der einzig sinnvolle Ansatz ist, Rahmenbedingungen zu identifizieren und sich über den Stand der Entwicklung des eigenen Unternehmens und realistische Entwicklungsziele im Klaren zu werden.

Gegensätzliche Vorstellungen von der Zukunft

Die Vorstellungen, wie die digitale Transformation auszusehen hat, reichen von einer „disruptiven“ Zerstörung bestehender Geschäftsmodelle, Organisations- und Personalstrukturen bis hin zu einem evolutionären Wandel – Vorstellungen, die sich gegenseitig nahezu ausschließen, denn eine Investition in einen Wandel ist dann eine Fehlinvestition, wenn man es mit einem Bruch mit Bestehendem zu tun hat. Leitvorstellung sind die von Daten getriebenen neuen Unternehmen, die neuen Stars; der Rest ist nach Auffassung mancher Experten die eigentlich produzierende Wirtschaft, die Old Economy als Zuträger der neuen Geldmaschinen.(4) Ob so eine wirkliche Stärkung des Industriestandortes Deutschland erreicht wird, wie in gleichem Atemzug beteuert wird, ist zweifelhaft.

Unterschätzt: Infrastruktur und Energieverbrauch

Dass angesichts der aktuellen Entwicklung die Kapazität des Internet mit seinen Glasfaser-Backbones und Routern in den nächsten Jahren mit Milliardeninvestitionen stark erweitert werden muss, wird allen sehr schnell klar. Hier wiederholt sich ein systemischer Denkfehler, den wir schon in der Strategie der Globalen Supply Chains erfahren konnten: der Engpass der physischen Verkehrsinfrastruktur und der rasante Anstieg des Energieverbrauchs in der Logistik, der in dem Maße kritisch wurde, je mehr Marktteilnehmer der gleichen Strategie folgten. Die britische Royal Society beschäftigt sich mit der Extrapolation, dass bei gleich bleibendem Wachstum das Internet in Großbritannien bis 2035 eine Strommenge verbrauchen könnte, die der heutigen Gesamtstromproduktion entspräche.(5) Während wir bestrebt sind, überall Energie einzusparen, bahnt sich an dieser Stelle unerwartet eine wahre Explosion an.

Die Vorstellungen von einem preiswerten Internet, Netzneutralität und den darauf basierenden Geschäftsmodellen wären dann Makulatur. Die vor Kurzem von der Telekom vorgestellten Pläne für ein Zwei-Klassen-Internet sind ein kleiner Vorgeschmack. 

Die Illusion von fehlerfreier Software und sicherem Internet 

Eine weitere grundsätzliche Frage stellt sich: Kennen Sie eine Software, die fehlerfrei ist? Entweder handelt es sich um Programmfehler oder wie vermutlich im Fall des jüngst nach dem ersten Rollout gestoppten globalen Frachtabrechnungssystems der DHL um systematische Fehler. Software, die zukünftig Big Data mit immer komplexeren und undurchschaubareren Algorithmen prozessiert, muss jedoch ohne Fehler sein. Was der Softwarebranche über Jahrzehnte nicht gelungen ist, soll jetzt auf einmal verfügbar sein.

Daran anknüpfend stellt sich die Frage der Sicherheit im Internet. Datenhacks sind keine Einzelfälle. Neuere Untersuchungen wie z.B. das Projekt „HoneyTrain“ haben gezeigt, dass industrielle Systeme im Internet nicht nur systematisch ausgespäht werden, sondern dass die Angreifer mit der eingesetzten Technik auch noch im Detail vertraut sind.(6) Das "Internet der Dinge" ist schon im Zugriff potentieller Angreifer, während wir gerade erste Schritte hineinsetzen. Hier wie da, auch mit Bezug auf „Cloud Solutions“, muss ein gesundes Misstrauen beibehalten werden. Dem Risikomanagement ist daher ein ganz anderer Stellenwert beizumessen: nicht nur als Reparaturbetrieb, sondern als Voraussetzung für jedwede Systementwicklung.

Profiteure der 4. Industriellen Revolution 

Je mehr Vorstellungen über die digitale Entwicklung publiziert werden, desto mehr verliert sich das Gesamtbild, in das sich ein Unternehmen mit seiner Geschäftsstrategie einordnen kann. Die Verfechter des disruptiven Ansatzes sagen selbst, dass von hundert Ideen neunundneunzig Flops sein werden, eine einzige Idee der Gewinnbringer. Das ist eine Strategie, die kaum aufgehen wird, wenn alle losrennen und jeder mit seinem Gewinner dabei sein möchte. Bestenfalls große Konzerne können sich solche „Labore für Neues" erlauben oder, wie Amazon, Alphabet/Google oder Facebook, Start-ups vom Markt wegkaufen. 

Wer sind die Nutznießer einer dergestalt propagierten neuen Wirtschaft? An erste Stelle ist es die in den letzten Jahren stark entwickelte, gut vernetzte „Forschungsindustrie“. Sie ist auf Förder- und Forschungsgelder angewiesen, mit denen sie ihre "Großbetriebe" unterhalten und weiter ausbauen kann. Dazu muss sie aber einen entsprechenden Output nachweisen und ständig die Story von der Notwendigkeit immer neuer Entwicklungen bringen. An zweiter Stelle sind es naturgemäß die Anbieter von Technik, Hard- und Software, die die „Werkzeuge“ für das neue digitale Wirtschaften bereitstellen. Schließlich sind daran die Strategieberatungen beteiligt, die seit dem in der Zwischenzeit in die Tage gekommenen Supply Chain Management keinen wirklich neuen großen Trend (the next big thing) besetzen konnten.(7) Deren Vorgehen ist nicht selten, Verwirrrung zu stiften und Bedrohung auszumalen, um sich dann als Berater und Helfer möglichst anzubieten. Mit Blick auf die künftigen Veränderungen ist Angst allerdings ein schlechter Ratgeber.

Ob die Industrie ebenfalls zum Gewinner wird, hängt nicht zuletzt davon ab, wie sehr sie sich von all dem Neuen beeindrucken - um nicht zu sagen überwältigen - lässt -, oder ob sie auf der Suche nach tragenden Geschäftsmodellen und durchgerechneten Business Cases einen kühlen Kopf behält. Geschäftsmodelle müssen angesichts der allseitig großen Unsicherheit pragmatisch angegangen werden, weil man in der heutigen Geschäftsdynamik nicht mehr statisch arbeiten kann.

An wertschöpfender, ständiger Innovation führt kein Weg vorbei

Natürlich brauchen wir Innovationen, die in Industrie 4.0 stecken. Natürlich gehört zur Innovation auch immer der Mut zum Risiko und oft genug ein Stück Verrücktheit. Dies in Abrede zu stellen, wäre genau so töricht, wie ein unkritisches Mitmachen im neuen Trend. Vor kurzem formulierte der IT-Fachmann Winfried Felser: „Wir brauchen keine technologische Transformation als Selbstzweck, sondern eine paradigmatische und qualitative Transformation der Ökonomie für echte Erfolge.“(8)
Flexibilität, Individualität (Stichwort: Losgröße 1) und kürzere Reaktionszeiten werden immer wieder als Merkmale der neuen Produktion genannt. Damit dies wirksam wird, müssen auch Lieferketten auf den Prüfstand. Zulieferer, die mit der neuen Taktung mithalten können, müssen erst aufgebaut werden. Und die sind eher regional. Vernetzte Produktionen etwa in Fernost nach den Standards von Industrie 4.0 zu errichten, ist auf absehbare Zeit unrealistisch: ein Transportvorlauf über Seecontainer frisst die Zeit- und Stückzahlvorteile wieder auf. Diese ist aber eine Entwicklung, die nur in kleinen Schritten vollzogen werden kann, weil viele Maßnahmen erst in einer durchgängigen Kette wirksam werden.

Die Menschen mitnehmen

Immer wieder wird betont, dass der Mensch im Mittelpunkt dieser neuen Entwicklung stehen soll und wird. Andererseits wird immer deutlicher, dass damit die Privileged few gemeint sind. Die heuer anlässlich des Weltwirtschaftsforums in Davos vorgestellten und diskutierten Studien sprechen eindeutig davon, dass die digitale Transformation mehr Arbeitsplätze abbauen als neue schaffen wird.(9) Experten haben sich daher deutlich für begleitende gesellschaftspolitische Maßnahmen wie das bedingungslose Grundeinkommen und einen grundlegenden Wandel des Bildungssystems ausgesprochen.

Wer führt die digitale Transformation in den Unternehmen an?

Während sich „Logistik und IT in neuer Führungsrolle“(10) sehen, kritisiert Thyssen-Krupp Chef Hiesinger „den in Deutschland so ausgeprägte(n) Fokus auf die technischen Aspekte der Digitalisierung.“(11) Die Führungsrolle im Unternehmen wird dem Chief Digital Officer (CDO) zugeschrieben, eine neukreierte Position, die selbst im Widerstreit steht. Auf die Formel „Adapt, disrupt, transform, disappear“(12) bringt die Unternehmensberatung PWC die Aufgabe des CDO und unterstreicht damit gleichzeitig seine temporäre Aufgabe. Betrachtet man die aktuelle Besetzung dieser Position, dann kommen allein 53 % der Stelleninhaber aus den Bereichen Marketing, Sales und Customer Service. Technologie, inklusive IT (14 %) und Strategie (7 %) haben dagegen vergleichsweise nachgeordnete Bedeutung.

Die digitale Transformation als Versuchsfeld

Neue Eigenschaften werden sowohl von Managern wie Mitarbeitern gefordert. Dabei geht es um das Gegenteil von dem, was man bisher als lineare, spezialisierte Qualifikationen ausgebildet und das sich in den bestehenden Unternehmenskulturen entwickelt hat. Federführend vertritt das Hasso Plattner Institut die schon zu Beginn der 90er Jahre entwickelte Methodik des „Design Thinking“ als probate Lösung, die Transformation in Unternehmen voranzubringen.(13). Interdisziplinäre Gruppen sollen neuartige Lösungen erarbeiten. Dieser Ansatz kommt vor allem in einem Laborumfeld zum Tragen. Um auch in einem Entscheidungsumfeld zu agieren, wird vielmehr von der Eigenschaft des „Hybrid Thinking“(14) gesprochen, d.h. dass an den Schaltstellen des Unternehmens einzelne Mitarbeiter stehen, die aufgrund ihrer interdisziplinären Fähigkeiten steuern können, also Generalisten statt Spezialisten.

Die digitale Transformation ist noch ein großes Versuchsfeld. Einen goldenen Weg gibt es nicht. In Beiträgen zu diesem ausufernden Thema begründen nahezu alle betriebliche Funktionsbereiche ihren Anspruch auf ihre führende Rolle. Auch wenn mit immer neuen Begriffen operiert wird, geht es im Kern um ein umfassendes Change Management, von dem man weiß, dass es in der Vergangenheit häufig schon an kleineren Herausforderungen gescheitert ist(15).

Konzepte statt Hype

Gegenüber medial aufgeladenen Entwicklungen ist stets ein gesundes Maß an Skepsis angebracht. Fest steht nur, dass die jetzt anstehende Entwicklung eine größere Reichweite hat als die bisherigen Innovationsschritte der letzten vierzig Jahre. Rückblicke auf vorangegangene Trends, in denen Fachleute weitgehend unter sich geblieben sind, wie das Papierlose Büro oder eine durch CIM integrierte menschenleere Fertigung, eignen sich nur bedingt als Bezüge. Dies liegt zum Einen am Internet selbst: Noch nie gab es ein Medium, das eine Veränderung so schnell und umfassend verbreitet hat. Zum Anderen gab es in der Vergangenheit kein Konzept, das an so vielen Stellen zur gleichen Zeit greift.
Falsch ist, unüberlegt, von den technischen Möglichkeiten geblendet, loszulegen und Industrie 4.0 verheißungsvollen Beratern und Systemanbietern zu überlassen. Entsprechende Projekte müssen in ihren Wirkungen viel umfassender begriffen werden als es heute üblich ist. Berichte über die zunehmende Zahl gescheiterter Einstiegsprojekte legen dies nahe.

Industrie 4.0 wird eine umfassende, nicht nur graduelle Entwicklung sein. Wichtig ist eine Roadmap der vielen Schritte zu einem sich immer wieder ändernden Ziel. Dem Hype hinterher laufen ist keine Lösung. Unternehmen müssen ihren eigenen Weg finden zusammen mit ihren Mitarbeitern und Kunden.

Andreas Seidel, 8. Februar 2016

 

 

Anmerkungen

(1) Hartmut Müller-Gerbes, Vice President Corporate Public Relations and Social Media bei TÜV Rheinland AG. Geht uns die Zeit zum Nachdenken aus? 27. Nov. 2015 auf Linkedin Pulse.
(2) Voran Henning Kagermann, ehemaliger SAP-Chef, Präsident von Acatech, der deutschen Akademie der Technikwissenschaften, Vorsitzender des Arbeitskreises "Industrie 4.0".
(3) Sennett Richard: Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 2005, S. 136.
(4) Vorbilder sind hier z.B. die Taxi- und Übernachtungsplattformen, die sich als „Vermittler“ zwischenschalten, Preise festlegen, das Risiko für Produktion und Leistungsinfrastruktur aber einseitig bei den tatsächlichen Leistungserbringern belassen.
(5) Florian Rötzer; 2035 könnte das Internet den gesamten britischen Strom fressen, Telepolis, 04.05.2015.
(6) In dem Projekt HoneyTrain von Syphos und Koramis wurde ein fiktives nach Industriestandard gesichertes Zugsteuerungssystem im Internet verfügbar gemacht, in nur sechs Wochen gab es über 2,7 Millionen. unberechtigter Zugriffe, zwei davon hätten bei einem echten System massive Schäden verursachen können. Projekt HoneyTrain. Aufbau, Durchführung und Ergebnisse. Whitepaper, Hg. Koramis GmbH, Saarbrücken 2015.
(7) Wie angreifbar die zum Dogma (Disrupt or be disrupted ) überhöhte These der "disruptive innovation" (Clayton M. Christensen) ist, weist die Historikerin Jill Lepore in ihrem Essay „The Disruption Machine. What the gospel of innovation gets wrong”, New Yorker Magazine, 23.06.2014) nach. Die Akteure dieses Denkens setzen nach Lepore auf Verunsicherung (a language of panic, fear, asymmetry, and disorder), nicht auf belegbare Fakten.
(8) Winfried Felsner, Vergesst die Digitalisierung – echte Erfolge durch die neue Logik der kollaborativen Netzwerk-Ökonomie!, 26.10.2015,www.competence-site.de; Felsner ist Betreiber dieses Netzwerkes für Management und IT und war früher u.a. stellvertretender Leiter des Fraunhofer-Anwendungszentrums für Logistikorientierte Betriebswirtschaft.
(9) World Economic Forum (Hg.); The Future of Jobs. Employment, Skills and Workforce Strategy for the Fourth Industrial Revolution, Geneva 2016.
(10) Geert-Jan Gorter, Logistik 4.0. Alter Wein in neuen Schläuchen?, channelpartner 13.01.2016.
(11) Carsten Knop, Das beste Fachwissen kann heute nachgeahmt werden. Der Vorstandsvorsitzende Heinrich Hiesinger erlebt in Davos eine kopernikanische Wende, faz.net 21.01.2016.
(12) PWC strategy&, Adapt, disrupt, transform, disappear. The 2015 chief digital officer study. Düsseldorf 2015
(13) z.B. Bosch, Telekom.
(14) Z.B. in Studiengängen „Cultural Engineering“ an der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg oder „Kultur und Technik“ an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus vermittelt.
(15) In der Literatur und in den Aussagen unterschiedlicher Unternehmensberatungen taucht immer wieder die Zahl von 70 % gescheiterter Projekte auf, wobei selbst Change Management-Insider von mindestens 40 % sprechen.