DE | EN
Wertschöpfung & Innovation
Denkzettel Nr. 36
28.09.2014

Plädoyer für mehr Innovation

von Manfred Hoefle

 

 

Innovationsschwäche von heute bedeutet Wachstumsschwäche von morgen und Arbeitsplatzverluste von übermorgen

Innovation kennzeichnet die fortschrittliche Seite einer Gesellschaft; sie ist Maßstab ihrer Fähigkeit und ihres Willens zur Erneuerung. Um diese ist es in Deutschland und in Europa besonders bei Großunternehmen seit Langem nicht gut bestellt. Darüber kann auch das Wirtschaftsprogramm Europa 2020, das Nachfolgeprogramm der fehlgeschlagenen Lissabon- Strategie 2010, nicht hinwegtäuschen. Dass es anders geht, zeigen innovative, dynamische Regionen bzw. Länder wie Südkorea, Singapur, Taiwan, Kalifornien und Israel.

Innovation ist in der öffentlichen Wahrnehmung ein Randthema. Nur im Zusammenhang mit NSA, Datensicherheit und Arbeitsplatzbedrohung wird es hervorgeholt. Meist dreht es sich um Gerechtigkeits- und Verteilungsthemen. Wertschöpfung steht nicht mehr im Zentrum, auch weil die jetzige relativ gute Arbeitsplatzsituation als normal angesehen wird. Die Zukunft, namentlich die in vollem Gang befindliche digitale Umwälzung in allen Bereichen der Wirtschaft und Gesellschaft, scheint noch weit weg. Die Forderung nach Zukunftsfähigkeit ist vielen zu nebulös. Ebenso verhält es sich mit der Forderung nach Innovation. Das Verhältnis Sozialleistungen zu Bildungs-"ausgaben" von Sieben zu Eins spricht Bände. Selbstzufriedenheit und Bewahren ist das typische Zeichen der Gegenwartskultur.

Besorgniserregende Lage

Wie bei anderen gesellschaftlich-wirtschaftlichen Erscheinungen ist zu fragen, ob es sich nur um eine gefühlte oder doch um eine tatsächliche Innovationsschwäche handelt. Wohlbegründet lässt sich behaupten, dass die einstmalige Innovationsstärke erodiert und in Teilbereichen sogar gänzlich verloren gegangen ist: Der Niedergang der Informations-und Kommunikationstechnik (IKT), einer Traditions- (und Schlüssel-)branche, mit dem Ausstieg von Siemens im Jahre 2006, keine bedeutenden Investitionen in neue Mikroelektronikfertigungen (seit dem MEGA-Projekt von Siemens in Dresden im Jahre 1994) außerhalb von "Silicon-Saxony", die Verlagerung der Forschung auf dem Gebiet der Genetik durch Bayer und BASF in die USA, der schleichende Rückzug aus dem Jahrhundertprojekt DESERTEC auf dem Energiesektor, die übereilte Verabschiedung aus der Kernkrafttechnik, die vor vielen Jahren erfolgte Vernachlässigung der Elektrochemie als Basis der Batterietechnik; des Weiteren die geringe Innovationsleistung der (teil-)privatisierten Bundesbehörden Telekom und Bahn sowie der großen Energiekonzerne Eon und RWE, die viel Geld für ihre internationale Expansion aufwendeten, aber zu wenig für Innovation.

Diese Ereignisse zogen mehr oder weniger unbemerkt vorbei, während jede Ankündigung eines Arbeitsplatzabbaus öffentliche Erregung erzeugt. Doch die Innovationsschwäche ist tiefgreifend und langfristig. Dafür einige Hinweise: Der niedrigere Anteil der MINT-Studierenden (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technologie), der Rückgang der Studienanfänger in der Elektrotechnik während der letzten fünf Jahre (in der Automatisierungstechnik um ein Drittel, bei IKT um die Hälfte und in der Mikroelektronik gar um zwei Drittel). Die höchstqualifizierten Absolventen in Genetik wandern seit Jahren aus. Der Mangel in den MINT-Berufen ist auf mindestens 30.000 angewachsen (einige Studien gehen von einer wesentlich höheren Lücke aus). Die Zahl der High-Tech-Gründungen hat nachgelassen. In Neugründungen wird in Deutschland im Jahr so viel investiert wie in Israel in einem Quartal. Informationstechnische Geräte - vom Handy über Tablet bis Workstation und Router – werden nur mehr importiert. De facto ist eine vor Jahren noch unvorstellbare Totalabhängigkeit in der Kommunikationstechnik eingetreten. In der Unterhaltungselektronik besteht sie schon seit Langem.

Nachdenklich stimmt insbesondere die Innovationsschwäche börsennotierter Großunternehmen im Unterschied zu dem von der Politik gelegentlich gelobten, aber ansonsten wenig beachteten Mittelstand. Waren früher Forschungs- & Technikchefs dieser Unternehmen noch breiteren Kreisen bekannt, stehen sie heute im Schatten der CFOs. Als CEOs dominieren, von der Automobilindustrie abgesehen, Manager(-isten) mit MBA-Hintergrund und großer Nähe zu Kapitalmarkt und Consultants. Folglich verlegen sich Großunternehmen immer mehr darauf, Innovationen und damit Wachstum einzukaufen, analog zu den sich häufenden Übernahmen von Wettbewerbern zur Mehrung ihrer Marktmacht. Für neue technologische Herausforderungen werden sogar bei glänzender Ertragslage öffentliche Mittel gefordert, so die Automobilindustrie mit der "Elektro"-Prämie nach der offensichtlich nicht marktkonformen Abwrackprämie. Das Gegenmodell stellt der amerikanische Automobilkonzern Tesla dar, der kürzlich sämtliche Patente seiner Elektroautos für die Konkurrenz freigab. Noch ein abschließendes Indiz: In einer jüngsten Befragung zum innovatorischen Zustand von Siemens, dem größten europäischen Technologiekonzern, stellte fast die Hälfte der Manager dem Unter- nehmen ein schlechtes Zeugnis aus, und damit auch sich selbst.

Betroffen macht es, dass dieser erschreckende Zustand weder die Politik noch die mitbestimmenden Gewerkschaften besonders umtreibt. Diese und die Medien widmen sich anscheinend lieber dem Mindestlohn, Steuerthemen, der Rente, der Frauenquote und den Mautgebühren.

Kann bei dieser Verfassung noch von einem erneuerungswilligen Land der Industrie und Wissenschaft die Rede sein?

Notwendig: ein Bewusstseinswandel und ein umfassendes Programm

Innovationsschwäche zu beheben ist schwierig und langwierig. Denn es geht um Fragen des Bewusstseins wichtiger gesellschaftlicher Gruppen - allen voran des Managements -, aber auch der Akteure in Politik und Verwaltung. Dazu braucht es eine kraftvolle, vorausschauende Führung oder, anders gesagt, die vom Management beanspruchte sogenannte Leadership.

1. Ansatzpunkt Unternehmen

Das Kopieren anderer Länder verbietet sich, weil es dem Anspruch der Innovationsführerschaft zuwiderläuft und die Verhältnisse in vielerlei Hinsicht grundlegend andere sind. Entscheidend ist, dass eine gute Einbettung und das effektive Zusammenwirken der hiesigen innovatorischen Kräfte gelingen. Die Stärke bei etablierten Technologien bedarf der ständigen Erneuerung vor allem durch Hochtechnologie und innovative Geschäftsmodelle. Kurzfristigkeit und die Fixierung auf den Kapitalmarkt hemmen nachweislich Innovation.

Die Produktion ist der robuste Kern der deutschen Wirtschaft. Es ist darauf zu achten, dass sie als Treiber für Wertschöpfung und Beschäftigung ihren im weltweiten Vergleich großen Stellenwert hält. Die Wirtschaft, insbesondere die Industrie, muss (z.B. bei Industrie 4.0 oder einem Betriebssystem für E-Automobile) in der vorwettbewerblichen Phase engagiert zusammenarbeiten. Die neuartige Beherrschung von Prozessen aller Art und die anbrechende Konnektivität durch das Internet der Dinge / Industrie 4.0 verlangt eine Entsprechung in kreativer Kooperation des "Industrieclusters Deutschland" und starke Impulse für die Grundlagenforschung und die Vernetzung. Eine angemessene, kontinuierliche Kooperation von Hochschulen und staatlichen Forschungseinrichtungen mit der Wirtschaft bringt erfahrungsgemäß Vorteile; besonders im Mittelstand ist sie zu verbreitern.

Weil die Unternehmensgröße (im Unterschied zu Überschaubarkeit) kein Korrelat zur Innovation aufweist, sondern vielmehr mit Bürokratie und Compliance einhergeht, ist Größenwachstum kritisch zu sehen. Es führt kein Weg vorbei: Großunternehmen müssen "unternehmerischer" werden.

2. Ansatzpunkt Bildung

Unabdingbar ist eine solide, breite Grundausbildung der Studierenden, die weiter führt in eine praxisnahe Fortbildung (Duales System auch in Teilen der Hochschulen). Dies ist und bleibt eine zeitlose Aufgabe. Anspruch, Leistungsbezug, Disziplin, Experimentierfreude und Flexibilität (statt Verschulung und Vermassung) sind bleibende Anforderungen. Ingenieure, Informatiker – MINT überhaupt – sind "Enabler" und Unternehmer die wichtigsten Treiber von Innovation. Diesen beiden Gruppen gilt es, wieder eine höhere soziale Anerkennung zu verschaffen. Da im Zuge der Digitalisierung Innovationen wesentlich stärker anwendungsbezogen und netzwerkgebunden sind, sind Ingenieurstudium und Informatik miteinander zu verschränken. Das "digitale Können" des Großteils der Beschäftigten ist anzuheben; und was bei der Gender-Thematik übersehen wird: Der Anteil der Frauen in den MINT-Fächern ist viel zu gering.

3. Ansatzpunkt Staat

Der Staat muss sich gerade bei Innovation in Selbstbeschränkung üben. An erster Stelle steht die Beseitigung von Innovationshemmnissen wie langwierige Genehmigungsverfahren und Kompetenzwirrwarr. An zweiter Stelle steht die Ermöglichung von Innovation, indem das Bildungssystem gepflegt und nicht ständig an ihm gedreht wird, und, was unerlässlich ist, die Verbreitung einer positiven Grundstimmung für Innovation. An dritter Stelle stehen die Sicherung eines funktionierenden Wettbewerbs und ein ständiger Wettbewerb um beste Lösungen, die sich auch finanziell „auszahlen". Diesbezüglich kann man von den USA lernen (Stichwort DARPA: Defense Advanced Research Projects Agency -Agentur der US-Streitkräfte für Forschungsprojekte).

Das Nachwachsen eines innovativen Mittelstandes über Unternehmensgründungen ist zu unterstützen. Ein besonderer Standortvorteil Deutschlands ist die diversifizierte Infrastruktur mit vielen starken, nicht kopierbaren Clustern. Diese und die relativ gute Infrastruktur sind Aktiva, die auszubauen sind. Vor allem der Engpass beim Internet ist rasch zu beseitigen. Generell ist die Umschichtung von Ausgaben in Richtung Investitionen zur Zukunftssicherung, also in Forschung und Entwicklung, in Angriff zu nehmen.

Aus dieser Zusammenstellung wird deutlich, dass nur ein umfassender Bewusstseinswandel und eine gemeinsame Anstrengung den notwendigen Innovationsschub bringen. Innovationen gedeihen in einer Gesellschaft, die Chancen ergreift, nicht in einer, die sich in Risikovermeidung ergeht. Dafür bedarf es einer gemeinschaftlichen Anstrengung, die von den Unternehmen auszugehen hat, denn diese sind in erster Linie auch die größten Nutznießer. Dem Staat muss jedoch im Interesse einer guten Beschäftigungssituation das Thema Innovation ein zentrales, dauerhaftes Anliegen sein.

Nur eine der Zukunft zugewandte Gesellschaft verschafft Raum für Innovation, der sich durch die Dynamik der Digitalisierung in einem ungeahnten Maße erweitert. Für eine rasch alternde Gesellschaft ist diese Lage eine doppelte Herausforderung, wie sie seit der Industrialisierung noch nicht dagewesen ist. 

 

 

Mitwirkende: Prof. Dr. Bodo Eidenmüller, Armin Sorg, Dr. Heinrich Stuckenschneider, Dr. Volker Wittpahl, Klaus Demleitner.

Mehr zu Innovationschwäche, Unternehmensgründung und zur Zukunft der Produktion in Deutschland im Internetforum: www.managerismus.com

Zeitgleich erschienen unter www.bilanz-magazin.de