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Wertschöpfung & Innovation
Denkschrift Nr. 8
06.12.2012

Der industrielle Niedergang der USA – Lehren für Europa: Wie Amerika das Produzieren verlernte

von Manfred Hoefle

 

 

Eine lange Erfolgsgeschichte und ein steter Abstieg

1791 hat der amerikanische Finanzminister Alexander Hamilton dem Land den Weg von der Agrarwirtschaft zur industriellen Produktion gewiesen. Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde England als größte Herstellernation abgelöst. Ein Jahrhundert lang - bis in die 60er-Jahre des 20. Jahrhundert - waren die USA der unangefochtene Standort der Massenproduktion, the shop floor of the world. Ausdruck dafür waren die immer wieder zitierten Konzepte eines Henry Ford mit dem Fließband und eines Frederick W. Taylor mit dem Konzept des Scientific Management.

Japan und Deutschland begannen – in ihrem Wesen Nationen mit einer großen Fabrikations- und Ingenieur-Tradition – sich als Exporteure (nach den USA) von Automobilen, Maschinen und Geräten einen Namen zu machen. Anfänglich hing diesen importierten Gütern der Ruf von Billigware an und die Hersteller wurden als Nischenfüller abgetan; Anbieter wie Honda, VW, Sony waren, verglichen mit den amerikanischen Anbietern, klein, aus Sicht der Marktführer vernachlässigbar. Aber sie wuchsen stetig.

Ein halbes Jahrhundert nach dem industriellen Scheitelpunkt, nämlich 2010, hat China die USA als größte Herstellernation überflügelt. Die Marktanteile in amerikanischen Kerngebieten erodierten zwischen 1999 und 2009 beachtlich: In der Luft-und Raumfahrt um 36 %, in der Informations-und Kommunikationstechnik um 9 % (1) (dagegen erhöhte sich der Anteil bei Finanzdienstleistungen um 8 %). Das lohnkostenmotivierte Offs-horing erlebte einen ungeahnten Boom, die Flucht in die Maquiladoras Mexikos und vor allem nach China nahm ihren Lauf. Das Handelsbilanzdefizit bei technisch anspruchsvollen Produkten erhöhte sich auf über 80 Milliarden USD (2010) und steigt weiter.

Am auffallendsten: Not made (anymore) in USA

Eine große Anzahl von Produkten, die in der Vorstellung der Konsumenten beziehungsweise Nutzer untrennbar mit Amerika verbunden waren und zu einem Teil noch sind, werden nicht mehr in den USA hergestellt. Die Reihe beginnt mit den Icons, das sind Barbie's, Fisher Price, Levis, My Little Pony, Candyland, Monopoly; sie setzt sich fort mit Household Products: Black & Decker, Spoons and Forks, TV's, Cannondale Bikes, Samsonite's, Vending Machines; schließlich auch High-tech-Products, die in den USA entwickelt wurden und ganze neue Anwendungsbereiche, sogar Zukunftsbranchen hervorbrachten: LED's, Cellphones, PC's, iPad, Dell Computers, Laptops. Diese Beispiele zeigen allesamt, dass ein breiter und bedeutender Ausschnitt der Wertschöpfung den USA mit großer Wahrscheinlichkeit dauerhaft entzogen wurde.

Am tiefgreifendsten: Das Verschwinden industrieller Champions und ganzer Branchen

Ein anderer Blick richtet sich auf die bewunderten Großunternehmen, die marktbeherrschenden Pioniere, die großen Firmennamen. Diese waren AT&T mit den legendären Bell Labs auf dem gesamten Gebiet der Telekommunikation und in der Halbleitertechnik, die 2012 untergegangene Kodak, die sogar die Digitalkamera erfunden hat, die fast vergessene RCA (Radio Corporation of America), in den 1960-70er Jahren eines der größten Unternehmen, mit den Sarnoff-Labs der höchst fruchtbare Inkubator auf dem Gebiet der Nachrichtentechnik und der Konsumelektronik(2) , Xerox, lange Zeit der Kopierer-Monopolist und Synonym dafür (mit seinem PARC Lab in Palo Alto eine Brutstätte von Erfindungen )(3) , Motorola, der Spezialist für Funktechnik, Handyhersteller und Halbleiterproduzent (6800-Family) und die lange ertragsstärkste und erfindungsreiche Firma IBM (International Business Machines), ein integrierter Technologiekonzern, der sich bis auf Computer und Server aus der Herstellung von Hardware vor 10 Jahren verabschiedet hat. In der klassischen Elektrotechnik begann sich der Branchenpionier Westinghouse vor zwanzig Jahren aufzulösen. General Electric (GE) hat bis 2000 eine fulminante finanzielle Performance vorgelegt, die Innovationskraft gemessen an Patenten indessen schwand (4) , die traditionsreiche Stellung als US-Fabrikant wurde in weiten Teilen aufgegeben, rund 30 Fertigungen geschlossen bzw. verlagert. Die ernüchternde Bilanz: Viele Inventing & Manufacturing Powerhouses sind untergegangen, die anderen haben sich gewandelt, weg von der Produktion zu Services - und wenn sie weiter produzieren, dann vor allem in China und Mexiko.(5)

Aufsehen erregte noch der Untergang großer, traditioneller Hersteller wie Bethlehem Steel, der früheren weltweit Nummer 2 der Stahlindustrie, 1960 noch an 20. Stelle der Global Companies und Dow Jones Com-pany von 1928 – 1987, heute eine Industriebrache mit einem darauf stehenden Spielcasino und einer depressed neighborhood im Umland von Baltimore. Von der breiten Bevölkerung kaum bemerkt ging das Absterben der Textilmaschinenindustrie vonstatten, darunter der groteske Untergang von Singer (6) und das ständige Ausdünnen der Maschinenbaubranche, einschließlich der Kunststoffmaschinen (7) . Schon vergessen ist der Zusammenbruch von High-Tech-Unternehmen, namentlich der Computer-Branche: Silicon Graphics, Apollo Workstations, Minicomputer (Digital, Data General, Wang), Alliant Computer Systems, Convex Computers und des Supercomputer-Pioniers Cray Research.

Ein dramatischer Verlust an Wertschöpfung und Beschäftigung

Der Rückgang der industriellen Wertschöpfung, also der Warenerzeugung, im Zuge der Reife einer Volkswirtschaft entspricht einem natürlichen strukturellen Trend. Relevant ist jedoch der relative Rückgang und von welchem Niveau dieser verläuft. In den USA fiel die industrielle Wertschöpfung im Zeitraum von 1970 bis 2010 von 24,3 % auf 12,8 %, halbierte sich also (demgegenüber reduzierte sich der entsprechende Anteil in Deutschland von 27,5 % auf 21 %). In den sogenannten Tigerstaaten (Malaysia, Singapur) lag der Anteil industrieller Wertschöpfung bei rund 20 %, im Falle von Taiwan und von China bei 30 % (auch in Österreich und der Schweiz bewegt er sich um rund 20 %). An diesen Relationen lässt sich ermessen, welche globale Verschiebung der Wertschöpfung eingetreten ist. Dabei ist zu bedenken, dass die Produktivität in der Industrie um 2/3 höher liegt als in der Gesamtwirtschaft, woraus sich ihre überproportionale wohlfahrtssteigernde Wirkung ermessen lässt.

Gingen in der Großen Depression der 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts rund 30 % der Arbeitsplätze im produ-zierenden Sektor verloren, waren es in der Zeit von 2000-2010 auch rund ein Drittel. Damals handelte es sich um ein langes konjunkturelles Tief, in jüngster Zeit ist es ein strukturelles Defizit.

Der Anteil der Industriebeschäftigten ging von 20 % im Jahre 1970 auf 15 % im Jahre 2000, auf 11 % im Jahre 2009 zurück und liegt heute bei rund 10 %. Nach Angaben von ITIF (Information Technology & Innovation Foundation) verringerten sich während der letzten 12 Jahre die entsprechenden Arbeitsverhältnisse um durchschnittlich 1.300 pro Tag und um insgesamt 66 Tausend Betriebe netto. Während in der Zeit von 1980-2000 die Zahl der Industriebeschäftigten in den USA nur um ein halbes Prozent pro Jahr abnahm, beschleunigte sich der Abbau im folgenden Jahrzehnt auf 4,3 % pro Jahr, was einer Minderung von rund einem Drittel entspricht. Diese Entwicklung hat einen allgemein unterschätzten Einfluss auf die Wirtschaft und Gesellschaft: Denn der Produzierende Sektor zahlt überdurchschnittlich, beschäftigt vor allem Non-College Educated, hat einen Multiplikator von 2-3 auf Beschäftigung und Wertschöpfung; und er ist ein unverzichtbarer Innovationsmotor.

Immer weniger führende Positionen

Wegen der weltpolitischen Rolle der USA hat die Militärtechnik, einschließlich der Luft- und Raumfahrt ein mit keinem anderen Land vergleichbares Gewicht. Die namhaften Unternehmen sind United Technologies, Boeing, Lockheed-Martin, General Dynamics, Northrop-Grumman, Raytheon und Rockwell Collins. Der militärische Sektor verfügt über eine eigene große Forschungslandschaft (Livermore Labs, Lawrence Berkeley, Los Alamos, Sandia National Laboratory, Langley) und ist ein herausragender Projektauftraggeber vieler Universitäten. Aber der Spill-over, der Technologietransfer in Richtung zivile Technik, hat an Dynamik verloren. Der Öffentlichkeit ist verborgen geblieben, dass für bestimmte kritische Komponenten keine amerikanischen Hersteller mehr vorhanden sind. Nicht nur für Militärexperten stellt sich die Frage, wie lange noch die für eine weltweite Präsenz notwendige aufwändige Technik finanzierbar ist.

Noch eine starke Position nehmen die USA ein in der Luftfahrt mit Boeing Inc., den Triebwerksherstellern GE und Pratt & Whitney und Systemlieferanten wie Honeywell. Relativ stark sind die Computerlieferanten, die einen Wachstumsschub durch den gigantisch wachsenden Rechenbedarf für das Internet erhielten. Google und andere große Internet-Unternehmen sind mit ihren Computer Farms zu den weltweit größten privaten Utilities aufgestiegen.

Eine innovative Branche, in der die USA weiterhin führend sind jedoch mit nachlassender Tendenz ist die lange Zeit höchstprofitable Pharmaindustrie. Hier hat vor allem die Zusammenarbeit großer, renommierter Kliniken mit international agierenden Pharmaherstellern und das Zusammenwirken mit den Zulassungsbehörden auf dem mit Abstand größten Markt der Welt zentrale Bedeutung. Auch in der Chemie, vor allem bei Spezialitäten, lassen sich starke Positionen ausmachen. Aber die US-Chemiehersteller Dupont, Dow, Rohm & Haas, GE bauten im letzten Jahrzehnt Innovationszentren in China und Indien auf. In der Medizintechnik verfügen die USA im Midwest über einzelne Cluster von Geräte- und Komponentenherstellern – Defibrillatoren, Herzschrittmacher, Instrumente, Orthopädiegeräte; diese zählen zu den relativ wenigen Hidden Champions. Eine führende Branche bilden die Agrarmaschinenhersteller mit Unternehmen wie Deere, Case, AGCO, Alamo Group, die eine hochproduktive Agrarindustrie beliefern.

Grob skizziert: Die USA haben tendenziell ihre Wettbewerbsstärke auf Gebieten verloren, in denen hoch-komplexe, qualitativ anspruchsvolle Produkte zu fertigen sind zum Teil sogar im militärischen Bereich und dort behalten, wo spezifische Standortfaktoren eine hohe Hürde für ausländische Anbieter bilden oder mittelständische Strukturen intakt geblieben sind und entsprechende Geschäftsstrukturen gepflegt werden.

Die Autoindustrie – die Schlüsselbranche des American Way of Life

Das für Amerika emblematische Produkt des 20. Jahrhunderts war das Automobil. Wie kein anderes Produkt war es der volkswirtschaftliche Motor. Was zählte, waren anfänglich der Preis, später das Aussehen und der Prestigewert. Das Auto wurde als Konsumprodukt gemacht mit ständigen, sich häufenden Modellwechseln, auf gesellschaftliche Segmentierung zugeschnitten, Life style und Image versinnbildlichend. In den USA hatte das Auto im Unterschied beispielweise zu Deutschland nie ein herausgehobenes innovatives, qualitätsvolles Image. Das Auto war auf modisches Veraltern programmiert, nicht auf sparsamen Verbrauch, zuletzt auch auf Übergröße bei den SUVs. Die anfängliche Vielzahl von Autoherstellern verringerte sich bald durch Zusammenschlüsse und wettbewerbsbehindernde Verfahren auf nur mehr wenige, im Wesentlichen drei Hersteller: GE, Ford, Chrysler. GM hatte viele Jahre lang eine beherrschende Marktposition von rund 50 % Marktanteil, befürwortete Importe, um drohenden kartellrechtlichen Maßnahmen aus dem Wege zu gehen, trat dann aber in den 1980er Jahren für Importbeschränkungen bei dem lukrativen SUV-Segment ein. Und unternahm einiges, um andere Nahverkehrsmöglichkeiten nicht aufkommen zu lassen.

Der Automobilmarkt wurde lange Zeit „vermachtet" und die noch stark gewerkschaftlich organisierte Belegschaft mit Pensionszusagen und allerlei Vergünstigungen ruhig gestellt. In den hierarchischen Strukturen der Großkonzerne machten sich bürokratische, manageristische Arbeitsweisen breit, an der Spitze verdrängten Vertriebs-/Marketing- und Finanzleute die Techniker. Nicht mehr das Produkt stand im Mittelpunkt, sondern Volumen und Marge.

Die US-Autoindustrie ist in vielerlei Hinsicht aufschlussreich für eine Einstellung, die dazu führte, die industrielle Substanz aufzuzehren: überwiegend finanzwirtschaftlich orientierte Hersteller; eine Belegschaft, für die nur der gewerkschaftlich organisierte Eigennutz zählt; Bürger, die das Einkreisen ihres Staates durch massives Lobbying und Markteingriffe in Kauf nehmen, im Glauben, dass das, was gut für GM ist, auch gut für Amerika ist. Spätestens im Nachgang der Rettung der als systemrelevant behandelten Firmen GM und Chrysler durch den Staat hat die Branche ihren besonderen nationalen Nimbus eingebüßt; sie ist im nationalen Maßstab eine normale, bezogen auf Innovation und Qualität im internationalen Vergleich eine nachhinkende Branche geworden.

Was sind die Ursachen dieser Entwicklung?

Zusammengefasst sind es im Wesentlichen drei:

1. Dominanz des Kapitalmarktes und Managerismus (11)

Bestimmend dafür sind eine erzwungene und zum Teil auch selbstverordnete Unterordnung unter die Anforderungen des Kapitalmarktes: Kurzfristigkeit (Short-termism) und geringe Kapitalintensität (Asset-light-Strategie)(12) . Danach sind Investitionen in die Ausbildung und in die Fertigung in engen wirtschaftlichen Grenzen zu halten. Im Vordergrund stehen opportunistische Verhaltensweisen im Umgang mit der Belegschaft, die Betonung des Kostenmanagements und kostengünstigste Beschaffung, die im Idealfall über ein weltweites Sourcing erreicht werden soll.(13)

Für die wichtigen Dimensionen Flexibilität und Qualität und damit zusammenhängend für Fertigungstiefe, den Prozess der Fertigungseinführung (Ramp-up), fehlt in weiten Teilen das notwendige Verständnis. Damit sind zielführende Fertigungs- und Produktentscheidungen erschwert oder nicht möglich. Bezogen auf Qualität wird der formale Weg der Zertifizierung beschritten, mit der Folge, dass weniger Qualität geschaffen als geprüft und Verantwortung abgegeben wird; das Ganze ist auch noch kostspielig. Mit der mangelnden Produktionserfahrung im Management sind viele unterschätzte Nachteile verbunden: wenig Gespür für operative Stellschrauben, Geringschätzung von Erfahrungsträgern (im Unterschied zu externen Experten und Beratern), anweisendes Verhalten, mangelnde Bereitschaft ständig zu lernen und Details zu verbessern, Unfähigkeit, von den Besten zu lernen, eine weitverbreitete Versuchung, Management-Moden mitzumachen und Consultants als „Kompetenzersatz" einzusetzen.(14)

Von den in den Unternehmensleitungen (15) tonangebenden MBA's werden die Folgewirkungen von Outsourcing unzureichend verstanden. Denn nicht die aktuellen Lohnkostenunterschiede sind von Belang, sondern die Total Costs of Ownership, das heißt alle mittelfristigen Kosten (insbesondere des Koordinations- und Kommunikationsaufwandes), die bewerteten Qualitäts- und Lieferrisiken, der Verlust von Skills & Know how, das Zusammenwirken im Innovationsprozess. Sicher ist: Exzellenz in der Produktion entsteht auf diese Weise nicht. Hinderlich dafür sind lange geübte Formen der Personalentwicklung und -führung, namentlich die Hire and fire-Praxis als Lösungsweg für kurzfristige Kapazitätsanpassungen und die Einstellung, dass es beim Arbeiter in erster Linie um ein rasches Anlernen geht und beim Manager eine karrierefixierte Jobrotation wichtig ist.(16)

Bekanntlich haben manageristische Praktiken in den alten, fertigungsgeprägten Branchen eine Tradition, die auf Frederick W. Taylor (1856-1915) zurückreicht. Danach hat das Rollenverständnis, dass Manager managen und Arbeiter auszuführen haben, eine erstaunliche Beständigkeit mit der Folge, dass damit die für eine komplexe Produktion unverzichtbaren Arbeitsweisen sich nicht entfalten können und suboptimale Prozesse von Dauer sind. Das notwendige Miteinander kommt nicht ausreichend zum Tragen (17). Nicht von ungefähr gab es mit den früheren Ausnahmen von IBM und Kodak bis heute keine Selbstverpflichtungen zu längerfristigen Arbeitsverhältnissen.

Neben der Auftrennung in Worker und Manager ist ein zweiter organisatorischer Umstand von weitreichender Bedeutung für die strategische Ausrichtung und die operative Effizienz verbunden: die in vielen Großunternehmen verbreitete Hierarchisierung mit dem dominierenden CEO an der Spitze und einer durchgängigen Chain of Command. Ohne auf die Vorteile von Führungsprinzipien und ihre situative Eignung einzugehen, lässt sich schlussfolgern, dass in aller Regel der enorme Druck des Kapitalmarktes über die Incentivierung des CEOs bzw. des Top-Managements an die Organisation weiter gegeben wird. Diese Durchleitung bedeutet oft einen opportunistischen Personalabbau, die Schließung von Fertigungen, das Offshoring, das Aufschieben von Investitionen in Modernisierung von Betrieben und der häufige Verzicht auf längerfristige Innovationsprogramme.

Durch grobe Verfehlungen in der Bilanzierung und durch das durch die Quartalsberichterstattung begünstigte manipulative Financial Reporting (Stichwort: Enron) kam es zu weitreichenden Compliance-Auflagen wie Sarbanes-Oxley (SOX). Diese sind nicht nur aufwändig, sie sorgen für geschäftsbegleitende Kontrollprozesse, die die Verantwortung des Einzelnen formalisieren. Die sich ausbreitenden Bestrebungen der Zertifizierung sind ein weiterer Anlass, Unternehmen zu normieren. Beide Ansätze haben in großem Umfang zu einer Bürokratisierung der amerikanischen Wirtschaft beigetragen.

Ein noch wenig beachteter Aspekt ist die Über-Größe vieler US-Unternehmen. Wenn Unternehmen nicht mehr unternehmerisch geführt, sondern nur mehr über Numbers & Systems gesteuert werden (können), mangelt es an Gestaltungsvermögen und es fehlt die operative Nähe; sie werden nur mehr von General Managern gemanagt. Das mag in manchen Konsumgüterbranchen ausreichen, in komplexen, innovativen Branchen ist dies zweifelsohne ein anhaltend großes Manko. Der Erfolg von High-Tech-Unternehmen wie Intel beweist indes, dass gute operative Führung – nicht nur für die strategische Ausrichtung erfolgsent-scheidend ist.

2. Illusionistische Wirtschaftswissenschaft, gefällige Politik, wenig konstruktive Gewerkschaften

Im Land mit den mit Abstand meisten Nobelpreisträgern der Ökonomie und der vielen Business Gurus erhält der produzierende Sektor frappierend wenig Beachtung; im Unterschied zu Geldpolitik, Kapitalmarkt, Börsenhandel; und in der Mikroökonomie differenzierte Wettbewerbsstrategien, diffizile Leveraging-(Finanzierungs-)Taktiken und sophisticated Controlling- und Marketingmethoden. Chronisch unterschätzt wird die Rolle der Produktion für die Gesamtwirtschaft infolge von Economies of scale und Multiplikator-Effekten. Auch mit der integrierenden und stabilisierenden Wirkung für die Gemeinschaft befassen sich die amerikanischen Sozialwissenschaften wenig.

Im Abschwung der Realwirtschaft der letzten Jahrzehnte sahen viele Ökonomen das postindustrielle Zeitalter anbrechen. Das Schwinden des Produktionssektors wurde als zwangsläufig hingestellt, der Job-Verlust sogar als Zeichen von Dynamik und Stärke der US-Volkswirtschaft gewertet. Der augenscheinliche Gegenbeweis ist die vorteilhafte Entwicklung der Industrieproduktion in Deutschland, Finnland, den Niederlanden, Österreich, vor allem aber in Südkorea, Malaysia und China im Vergleich zu den „Industrieverlierern", nämlich Frankreich, Großbritannien, Italien, Portugal, Spanien, Kanada und eben in hohem Maße die USA. Vertreter in Wissenschaft und Politik erkennen im Outsourcing manufacturing offshore einen natürlichen Ausfluss von Free Trade und eine wohlbegründete Managementstrategie, ohne das Verhalten industriepolitisch gesteuerter Länder im Blick zu haben oder die Sekundärwirkungen, den sogenannten ripple effect von Verlagerungen hinreichend zu überblicken.

Lange Zeit wurde in breiten Kreisen die Deindustrialisierung - in den nordöstlichen und mittwestlichen Bundesstaaten der USA gingen bis zu 50 % der Arbeitsplätze in den letzen 30 Jahren verloren - nicht zur Kenntnis genommen, die Produktivitätshemmnisse infolge einer vernachlässigten Infrastruktur übersehen. Dass in dem „Land der Mobilität" ausgerechnet die verkehrstechnische Infrastruktur – zum Teil auch die energetische und informationelle – sich zusehends in einem desolaten Zustand befindet, ist symptomatisch(18). In zunehmendem Maße wird die instabile Versorgung mit der für Fertigungsprozesse kritischen elektrischen Energie zu einem Dauerproblem. Als ein weiteres Hemmnis gilt die komplizierte, produktionsfeindliche Steuergesetzgebung.(19)

Der zunehmende Partikularismus in Wirtschaft und Gesellschaft, insbesondere in der Politik die Uneinigkeit von Demokraten und Republikanern in grundsätzlichen Fragen, ist ein gravierendes Hemmnis für eine zukunftsstärkende Industrieförderung. In vielen Branchen hatten die Gewerkschaften mit ihrer Besitzstand wahrenden Haltung, insbesondere mit den Flexibilität einschränkenden Regularien und den hohen Pensionsansprüchen und Gesundheitsleistungen für Familienangehörige einen desaströsen Einfluss. Statt zu modernisieren, wurde die Produktion eingestellt, viele Betriebe wanderten aus dem Production Belt ab in die südlichen Right to Work States oder verlagerten komplett in Billiglohnländer. Ein jüngstes Beispiel dafür ist das langwierige Gezerre um den Produktionsstandort von Boeing in South Carolina.

3. Keine nachhaltige Grundeinstellung

Die amerikanische Gesellschaft hat sich seit 50 Jahren dem Konsum verschrieben, sich ihm ausgeliefert: Consumer Welfare wurde zum nationalen Einverständnis; Instant Gratification hat Vorzug vor Sparen und Obsolescence vor Dauerhaftigkeit. Der Konsum macht 70 % des BIP aus. Der klassische Wert von Bildung wurde zum Opfer der Ökonomie, das Studieren nach „fast buck and career track" ausgerichtet. Dagegen ist das puritanische Erbe in einem erschreckenden Ausmaß verloren gegangen(20). Das unübersehbare Resultat ist der chronische Rückgang der Mittelschicht und die starke Ausbreitung prekärer Verhältnisse.

Im unablässigen Drang nach Marge und Wachstum hat sich die Wirtschaft aller Mittel der Bedürfnisschaffung bedient und so zusehends eine Gesellschaft gefördert, die im tiefen Grunde unstet und unzufrieden ist. In einer solchen Gesellschaft erlahmt der Wille, Dauerhaftes zu schaffen und das Streben nach Exzellenz ist dauerhaft geschwächt.

Das unbestechliche Indiz dafür ist die Fehllenkung jugendlicher Talente in der Ausbildung. In den USA standen in den letzten Jahren rund 160 Tausend MBA-Graduierte (davon rund 30 % ausländische Studenten) rund 70 Tausend Engineering Bachelors – nicht einmal Masters - (davon 50 % ausländische Studenten) gegenüber (21). Der Rückgang bei amerikanischen Ingenieurstudenten vollzieht sich seit Langem (22) und ohne, dass er als beunruhigend registriert worden wäre, in besonderem Maße bei den sogenannten klassischen Fächern des Maschinenbaus und der Verfahrenstechnik. In einem beängstigenden Maße sind diese für eine moderne Industriegesellschaft unentbehrlichen Enabler den Unternehmen abhanden gekommen. Dieser Umstand ist nach aller Erfahrung ein robuster Frühindikator für eine nachlassende Innovationsdynamik. Die Gründe sind im Wesentlichen bekannt: im Vergleich zu BA/MBA die höheren schulischen Anforderungen und die notwendige Disziplin, geringere Aufstiegsmöglichkeiten, weniger Vertreter im Top-Management als Förderer, geringere Bezahlung und niedriges soziales Standing.

Für die Nicht-College-Studenten fehlt eine aufbauende berufliche Ausbildung mit Aufstiegsmöglichkeit vom Lehrling zum Meister, vom Facharbeiter zum Betriebsingenieur. Ein industrial arts curriculum gibt es nicht, bei Manual Jobs mangelt es in der Mehrzahl der Unternehmen an innerbetrieblicher Weiterbildung. Darüber hinaus fehlt es in vielen Branchen und Regionen an überbetrieblichen Organisationen der beruflichen Weiterbildung.

Der Mangel an genügend qualifiziertem technischen Personal ist offensichtlich: US-Unternehmen begründen sogar immer häufiger die Notwendigkeit zu weiteren Verlagerungen mit fehlender Qualifikation der Beschäftigten in der Produktion; ausländische Hersteller beklagen sich über die damit verbundenen Schwierigkeiten beim Aufbau neuer Fertigungen (23). Die Ursachen für die nachgelassenen Fähigkeiten sind vielfältig, sie stehen aber in einem sich addierenden Verhältnis. Und was die Lösung des nicht kurzfristig zu lösenden Problems angeht, sind wie schon erwähnt Manager, Mitarbeiter und Kunden zu einem großen Teil einem Denken verhaftet, das langfristigen Lösungen im Wege steht. Dazu zählt die weitverbreitete Einstellung der Unternehmen, bei Bedarf fachliches Personal abzuwerben, ohne selbst in die Ausbildung zu investieren; und die Haltung der Arbeitnehmer, sich dorthin zu verkaufen, wo das günstigste Jobangebot winkt.

Wenig verheissungsvoller Ausblick

Verleugnung der Realität ist ein wesentlicher, wenn nicht der entscheidende Grund für entgangene Chancen, nachteilige Entwicklungen zu stoppen und Verhältnisse neu zu ordnen. Gerade erfolgsgewöhnte, stolze Firmen und Nationen sind in Gefahr, der Selbsttäuschung zu unterliegen. So wird von amerikanischen Ökonomen und Medien das Schrumpfen des produktiven Sektors als natürliche Folge der hohen Produktivität und als klares Indiz für die Höherentwicklung der amerikanischen-analog auch in Großbritannien-Volkswirtschaft gewertet. Als Beweis für diesen scheinbar erfolgreichen Weg wird die Stellung der USA als größter Exporteur von Dienstleistungen angeführt (allerdings ohne die Überhöhung durch Financial und Legal Services zu nennen). Mitunter erwecken Politiker den Anschein, dass die Parteinahme für den Dienstleistungssektor einem fortschrittlichen Denken entspricht.(24)

Die Euphorie um die New Economy Ende der 1990er Jahre (erneut wieder in den letzten fünf Jahren vor allem mit den Social Network-Unternehmen aufgekommen) schlug sich in der Abwertung von Produktion nieder. Auftrieb erhielten virtuelle Geschäftsmodelle und Geschäfte mit Schwerpunkt in Marketing, Vertrieb und Distributionslogistik hauptsächlich für Importgüter. Unternehmen wie Amazon, ganz abgesehen von Google, Facebook, Groupon und anderen waren die glamourösen Firmen, zu denen es vor allem die MBAs hinzog. Von deren Beschäftigungseffekt war nicht die Rede, das Interesse für die Börsenkapitalisierung umso größer.

In jüngster Zeit werden mit sichtlicher Genugtuung Fälle kolportiert, dass US-Hersteller einzelne Produktio-nen wieder zurück verlagern; so NCR bei Geldautomaten/ATM's (mit dem eigentlich selbstverständlichen Argument, damit näher an den innovativen Kunden, den Verkäufern und Hochschulen zu sein), GE bei Warmwasserbereitern (nachdem in den letzten 10 Jahren rund 30 Betriebe still gelegt wurden). Die Meldung, dass Caterpillar und Procter & Gamble (nach 40 Jahren) jeweils eine neue Betriebsstätte planen, wird als deutliches Zeichen einer industriellen Wiederbelebung gedeutet.(25) Angesichts des anhaltenden Offshoring ist dieser Optimismus fraglich.

Als wesentlicher Vorteil der amerikanischen Wirtschaft wird zu Recht die Innovationsstärke aufgrund des nicht nachlassenden Stroms von Start-ups gesehen. Die Unternehmen Hewlett Packard (1939), Intel(26) (1968), Apple (1976), Cisco (1984) sind herausragende Silicon Valley-„children", Dell ist „Texas born". Mit Ausnahme von Intel ließen diese Unternehmen in zunehmend großem Umfang in Südostasien/China oder wie Dell komplett im Ausland fertigen. Die jüngsten Unternehmensgründungen beispielweise bei „Green Tech" outsourcen die Fertigung von Anfang an und sind beim Manufacturing up-scaling fast ausnahmslos gescheitert. Dieses Hochfahren des Volumens gelingt immer weniger in den USA, weil es im verwöhnten Venture Capital-Business an „patient money" fehlt und die dynamischen Konkurrenten vor allem in Fernost immer aggressiver in diese Geschäfte eindringen. Wenn das Ökosystem für Innovationen den Vorteil der Nähe verliert und stark kurzfristigen Erwartungen ausgesetzt ist, wird es fragil. Die Erwartung, dass die USA immer wieder Break-through-Innovationen hervorbringen, gründet auf positiven Vergangenheitserfahrungen; bei näherer Betrachtung waren viele Innovationen vor ihrer breiten Kommerzialisierung abgewandert.

Verbreitete Unterschätzung, Beschwichtigung und ein fragwürdiger Vorschlag

Nach einer Untersuchung von Booz Allen ist fast die Hälfte der Wertschöpfung und mehr als die Hälfte der Manufacturing Jobs gefährdet. Diese Studie unter dem Titel „wake-up call" hat keine Betroffenheit ausgelöst. Warnende Hinweise kommen meist von Think Tanks, von Clyde Prestowitz vom Economic Strate-gy Institute" (ESI) und Robert D. Atkinson (ITIF). Die Antwort auf die Warnungen fiel mitunter bemerkenswert beschwichtigend aus: „But, say manufacturing experts, there is little risk that the manufacturing base will disappear"(27). Aber die Zahl der nationwide bekannten, in Amerika produzierenden Vorzeigeunternehmen ist, wie manche Auflistung zeigt, kurz geworden: Harley Davidson, Luxury Kitchen Devices (Viking Range), Pianos (Steinway)(28), Guitars (Gibson); da gibt es sicher einige mehr.

Noch gibt es keinen allgemeinen Konsens, dass Verlagerungen von Endprodukten eine kaskadierende Schwächung vorgelagerter Wertschöpfungsstufen nach sich ziehen. Mit ihnen reduziert sich nämlich die Nachfrage nach Modulen, Halbzeugen, Teilen, nach den Maschinen und Einrichtungen, die dafür gebraucht werden und schließlich nach Rohstoffen. Denn Innovation und Fertigung bilden eine Prozessgemeinschaft oder wie es Andrew N. Liveris, CEO von Dow Chemical,(29)  lapidar ausdrückte: „Dort wo die Fertigung hingeht, folgt zwangsläufig die Innovation."

Shareholder Value-Zwänge ziehen ein ausgesprochen individualistisches Verhalten der Unternehmen nach sich; beispielsweise durch rücksichtsloses Offshoring verbunden mit dem plötzlichen Aufkünden von Lieferantenbeziehungen. So werden Lieferanten schnell zu Verlierern gemacht. Der hohe volkswirtschaftliche Preis wird erst gezahlt, wenn die Basis für einen Neuanfang nicht mehr da ist. Der Verlust von Fähigkeiten ist nicht vorübergehend und die Rückgewinnung erfahrungsgemäß langwierig. In den USA gelingt es immer weniger, vorwettbewerbliche Arbeits-/Projektgemeinschaften zu installieren und unterhalten. Die letzte große, eingeschränkt erfolgreiche Initiative war das 1987 wegen der japanischen Übermacht bei Halbleitern gegrün-dete Konsortium „Semiconductor Manufacturing Technology" (SEMATECH)(30). Die Zeit für ein vergleichbares koordiniertes Vorgehen bei Computer related products ist abgelaufen. Apple (31) hat die Fertigung an den taiwanesischen Auftragsfertiger Foxconn abgegeben. Der Hauptkonkurrent Samsung dagegen verfügt über eigene Komponenten und über ausgezeichnete Fertigungsmöglichkeiten. Die USA sind sogar im Kern von High-Tech, der Computerbranche seit mehr als 10 Jahren nicht mehr autonom.

Vordergründig, ernüchternd ist die am häufigsten vorgeschlagene Remedur: Qualifizierte und Talentierte in die USA zu holen und solche mit akademischem Abschluss dort zu halten. Dafür sollen einfach die derzeitigen strengen Visaregelungen liberalisiert werden. Auch bei wohlwollender Betrachtung ist das eigennützige Abschöpfen von Talenten für die Völkergemeinschaft keine gute Lösung. Der Verzicht auf eigene Anstrengungen ist ein bedenkliches Zeugnis allseitiger Kurzfristigkeit.

Die USA haben bis in die jüngste Vergangenheit immer wieder die Kraft aufgebracht, grobe Fehlentwicklungen umzudrehen und neue Anfänge zu wagen. Die weitverbreitete unternehmerische Einstellung ist das große Aktivum. Die Absichtserklärungen des Präsidenten, zehntausend Lehrer für Mathematik und Naturwissenschaften einzustellen, sind ein hoffnungsvolles Signal, dass die Zeichen erkannt werden.

Das Verständnis dafür, dass die Fähigkeit zum Produzieren in vielen Branchen unentbehrlich ist, um mittel- und langfristig wettbewerbsfähig zu bleiben, ist in weiten Teilen der Wirtschaft und Gesellschaft verloren gegangen. Die USA brauchen ein neues Leitbild einer funktionierenden Industriegesellschaft.

Das „amerikanische Modell" hemmt das Produzieren bzw. die Wertschöpfung; es ist nicht nachhaltig. Ein fortgesetzter industrieller Niedergang verringert den Wohlstand breiter Bevölkerungsschichten, spaltet die Gesellschaft und unterminiert die hegemoniale Rolle der USA. Dies ist auch für Europa eine höchst unerwünschte Perspektive.

Lehren für Europa

Vor dem Hintergrund unterschiedlicher kultureller Eigenschaften und der historischen Entwicklung geht es nicht um die bloße Übertragung von Erfahrungen; vielmehr soll nach Einsichten gesucht werden, die für die Länder Europas von Bedeutung sind. Zur Dringlichkeit hat sich der EU-Industriekommissar Antono Tajani im Oktober 2012 geäußert: „Wir dürfen nicht weiterhin zulassen, dass unsere Industrie Europa verlässt."(32) Dazu muss die Politik mit dem Input der gesamten Wirtschaft nicht nur der großen Player die Wege markieren und die Wirtschaft aus Eigeninteresse und nicht nationalen Rücksichten mitmachen.

Sechs Thesen dazu:

  1.  Europa muss das Selbstverständnis einer integrierten Wirtschafts- und Wertschöpfungsregion entwickeln, die die vielen Spezialisten und die großen Weltmarktführer zu einem stärkeren Zusammenwirken anregt. Das ist weniger ein Thema der Politik der EU als ein ständiges Bemühen der nationalen und regionalen Einheiten, sich stärker zu vernetzen, mehr zu kooperieren, regionale Cluster zu bilden; kurz einen stärkeren Gemeinschaftssinn zu praktizieren. Ansporn dazu ist: erstens, zu große Abhängigkeiten von außereuropäischen Konkurrenten vermeiden, zweitens, zu einem Raum für die Herstellung anspruchsvoller Produkte zu werden und drittens, die Regionen in Ost-/Südeuropa intensiver in einen Produktionsverbund einzubeziehen.

  2.  Europa muss die duale Ausbildung und das duale Studium zum Modell der beruflichen Ausbildung machen (33). Dazu ist eine ständige Wissen- und Können-Übertragung in Länder ohne diese Tradition zu betrei-ben. Die innerbetriebliche Weiterbildung ist breit zu unterstützen. Zur verbesserten Umsetzung von Inno-vationen ist eine größere Zahl von Ingenieuren und Informatikern notwendig. Darum ist die Aufnahme eines Studiums der Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik (MINT) anzuregen und interessant zu gestalten, das entsprechende Studium sozial aufzuwerten. Das System von Forschungsgemeinschaften, die insbesondere die KMUs bei der Innovation unterstützen, sollte erweitert werden (Beispiel Fraunhofer-Gesellschaft); ebenso das System der Technologietransfer-Netzwerke (Beispiel Steinbeis).

  3. Europa muss Innovation und Produktion als ein Ökosystem verstehen und die „klimatischen Bedingungen" dafür schaffen, indem subsidiär Cluster und Supply Chains und Konsortien gefördert (nicht subventioniert) werden, die die Höherentwicklung der Wirtschaft und die Intensivierung der Regionen vor allem der zwischennationalen zum Ziel haben. Dafür sind vertrauensvolle, unkomplizierte Arbeitsbeziehungen wichtig.

  4.  Europa muss eine Wertschöpfungsstrategie unterstützen, die Exzellenz und Qualität zum Angelpunkt hat. Das bedeutet die Integration von Entwicklung und Fertigung (und damit die Einschränkung von Offshoring), ein hohes Maß an räumlicher Nähe, eine gute kommunikative und verkehrsmäßige Vernetzung. Eine weitere wichtige Anforderung ist eine höhere Flexibilisierung (Stichworte: atmende Fabrik, Produktionsnetzwerke).

  5.  Europa soll verstärkt auf dezentrale Strukturen setzen und Größe beschränken. Das heißt, mittelständische Strukturen unterstützen (zumindest nicht benachteiligen), Konzentration vermeiden und übergroße Unternehmen aufspalten, Spin-offs und Start-ups durch größere unternehmerische Freiräume fördern. Die Finanzmärkte sind in den Dienst des Produzierenden und Dienstleistungssektors zu stellen.

  6. Europa soll manageristischen Entwicklungen Einhalt gebieten, indem das Auseinanderdriften der Einkommen von Top-Management und Belegschaft korrigiert wird, mehr auf Belohnung und nicht auf Incentivierung gesetzt wird und die Haftung gestärkt wird.


Produktion bzw. industrielle Wertschöpfung ist der Produktivitätstreiber und damit der Wohlstandshebel einer Volkswirtschaft. Deshalb muss ein Bündel substantieller Maßnahmen ergriffen werden, welche Europa auf lange Sicht zum Wertschöpfungsstandort machen. Notwendig ist die Besinnung auf die eigenen Stärken. Geboten ist der Verzicht auf gescheiterte Konzepte angelsächsischer Provenienz. Nicht gebraucht werden vordergründiger Aktionismus und Eingreifen von Gemeinschaftsbehörden in den Organismus von Unternehmen, Regionen, Gemeinschaften.

Kurz:
Die Vielfalt Europas nutzen, eine breite und differenzierte Produktionsinfrastruktur ausbauen: eine gute Berufsausbildung und ein langfristiger, flexibler, integrierter, regionaler Ansatz in der Produktion; generell: unternehmerische, nicht manageristische Lösungen.

 

Quellen

Für diese Schrift wurde eine breite Literaturauswertung vorgenommen, einschließlich von Veröffentlichungen im Internet. Wegen des Umfangs werden viele Quellen (v.a. Statistisches Material) nicht im Einzelnen angeführt.

  • Arvind Kaushal, Thomas Mayor, Patricia Riedl: Manufacturing's Wake-up call in: Strategy+business, Issue 64, Autumn 2010.
  • Hopper, Kenneth; Hopper William: Puritan Gift – Reclaiming the American Dream amidst global financial Chaos, I.B. Tauris, London 2007.
  • Nash-Hoff, Michelle: American Manufacturing Has Declined More Than Most Experts Have Thought, The Huffington Post, Oct. 25, 2012.
  • Porter, Michael; Rivkin, Jan.: Can America compete? Strategies for Economic Revival, Harvard Magazine (Sept.-Oct. 2012).
  • Tedlow, Richard, S.; Why Business Leaders Fail to Look Facts in the Face – and What to Do about it; Penguin (USA) Inc., New York, 2010.
  • Fortune: What America Makes Best: March 28, 1988.
  • www.worldtradewt100.com/Things America Makes Best, Feb.1, 2005.
  • money.msn.com/:10 Products America Makes Best; Jun. 28, 2012.
  • www.compete.org/;
    www.washingtontimes.com/news/2011/jan/22/obamas-economic-agenda-boost-us-competitiveness/?

 

Anmerkungen

Hinweis: Die Software-/ Internetbranche ist wegen der Einschränkung auf „industriell" nicht berücksichtigt.

(1) UN-Commodity Trade Statistics Database, IMF BOP Statistics.
(2) Namhafte Erfindungen waren Farbfernsehen, Elektronenmikroskop, Optoelektronik, LCDs, Videorecorder, High-Definition TV, Direct Broadcast, Satellitensysteme, CMOS-Technologie.
(3) Laserdruck, Ethernet, moderner PC, grafische Benutzeroberfläche (GUI), Objektorientierte Programmierung, amorphe Silizium-und VLSI-Anwendungen in der Mikroelektronik.
(4) Von der Position 1 in der Weltpatentbilanz im Jahre 1960 auf Position 15 im Jahre 2000 auf nunmehr Position 52.
(5) Dem Leser ist empfohlen, die wechselhafte Geschichte dieser (meist) großartigen Unternehmen zu lesen.
(6) Singer: 1947 noch eine Fabrik mit 10.000 Beschäftigten in Elizabethport (N.J.), gescheiterte Diversifikationsversuche in Richtung Militärtechnik und Elektronik, von einem Company Raider übernommen, dann zu einem dubiosen chinesischen Investor einem intransparenten Konglomerat einverleibt, 1989 in den größten Insolvenzfall Hongkongs verwickelt, aktuell eine Beteiligung von SVP World, mit Sitz in den Bermudas. Singer ist ein lehrreicher Fall des Niedergangs eines manage-ristisch geleiteten Unternehmens, das Opfer eines undurchschaubaren räuberischen Kapitalismus wurde.
(7) Kunststoffverarbeitungsmaschinen waren eine traditionell starke amerikanische Branche; heute werden rund 3/4 der Maschinen importiert. Die wenigen Unternehmen (z.B. Cincinatti Milacron) sind zum größten Teil Beteiligungen von Private Equity / Buy-out-Funds.
(8) Teflon („vom Satelliten in die Bratpfanne") wurde im Übermaß zitiert, wohl weil es an anderen vergleichbaren Beispiel-fällen mangelt. Vielmehr ist davon auszugehen, dass in Bereichen der Software (v.a. Games) und in der Mikroelektronik, Mikrosystemtechnik, bei Robotern und in der Materialtechnologie die zivilen Anwendungen fortgeschrittener sind als die meisten militärischen.
(9) In diesem Zusammenhang sei auf die geschichtlichen Analogien von „military overstretch" verwiesen in Paul Kennedy's The Rise and Fall of the Great Powers: Economic Change and Military Conflict From 1500 to 2000, 1987.
(10) Minnesota Valley Medical Manufacturers Network (MEDNET); Chairwoman Darlene Miller ist bezeichnenderweise von 25 Mitgliedern die einzige Vertreterin des Mittelstandes im Council on Competitiveness and Jobs der ersten Obama-Regierung.
(11) Eine umfassende Beschreibung unter: www.managerismus.com bzw. im Buch Managerismus – Unternehmensführung in Not; Weinheim, 2010.
(12) Produktion ist in der Regel kapitalintensiv, was sich gemäß "empirischer" Befunde, v.a. von PIMS (Profit Impact of Market Strategies) in hohem Maße gewinnmindernd auswirkt.
(13) Der prominenteste Fall war die Beschaffungspolitik beim Dreamliner von Boeing. Management Guru, Tom Peters und die einschlägigen Strategy Consultants empfahlen die Dekomposition und Virtualisierung der Wertschöpfung und das Orchestrating of supply chains und die Beschränkung der Produktion auf Endmontage bzw. Systemintegration). Mit diesen Konzepten „missionierten" sie auch in Europa.
(14) So versandeten viele Ansätze, japanische Fertigungspraktiken zu übernehmen; eklatant im Falle des 1984 gegründeten Gemeinschaftsunternehmens von GM und Toyota (New United Motor Manufacturing, Inc.; NUMMI) in Fremont, Cal.
(15) Für Ingenieure in manageristisch geführten Unternehmen ist der Erwerb eines MBA eine wichtige Karrierehilfe.
(16) GE scheint nach mehr als 50 Jahren wieder mehr Wert zu legen auf ein tiefes Verständnis des Geschäftes einschließlich der Produktion (Motto: „Deep not wide").
(17) Der große Managementlehrer Peter F. Drucker hegte nach seiner Studie von General Motors (Concept of the Corporati-on, 1946) die Vorstellung vom „verantwortlichen Arbeiter" als Teil des Managements und damit als Überwindung dieser Spaltung der Belegschaft.
(18) Besonders augenfällig ist das unzureichend ausgebaute Schienennetz im Vergleich zu anderen Nationen, besonders drastisch im Falle der Anbindung der Hauptstädte bzw. Metropolregionen: Shanghai – Peking, Petersburg – Moskau, Frankfurt, Dubai.
(19) Rep. Lloyd Doggett: 'Our tax system should encourage job creation and investment in America and end these tax incentives for exporting jobs and dodging responsibility for the cost of securing our country.'
(20) Siehe hierzu: The Puritan Gift von Kenneth and William Hopper.
(21) Bei „advanced students in engineering" (incl. math and science) liegt der Anteil nichtamerikanischer Studenten in bestimmten Fächern bei bis zu 70 %, wovon die meisten aus Indien und China/Fernost kommen.
(22) Schon vor mehr als 30 Jahren (Sept. 1980) hat James Fallows in Atlantic („American Industry: What Ails IT, How To Save IT"), in einem Ländervergleich auf die exorbitante Asymmetrie von Berufsgruppen aufmerksam gemacht. Danach hatten die USA anteilsmäßig 20 mal mehr Lawyers und 10 mal mehr Accountants als Japan, aber sechsmal weniger Engineers. Bei Business/Strategy Consultants ist von einer ähnlichen Relation wie bei den Lawyers auszugehen. Nicht von ungefähr ist von overlawyered (als Folge einer „litigious society"(J. Opel) und overconsulted die Rede.
(23) Siemens USA konnte 2011 rund 3000 Job-openings in der Fertigung nicht adäquat besetzen.
 Die Belobigung der amerikanischen Arbeitskräfte für ihre Produktivität und Qualität („well trained, increasingly well educated labor force") ist politisch motivierte Schönfärberei.
(24) „The push to promote manufacturing is political in origin and may be abandoned after election" - „I can think of no rational basis for putting manufacturing ahead of services." http://www.becker-posner-blog.com/2012/04/decline-of-us-manufacturingposner.html
(25) The Changing Landscape of U.S. Manufacturing, Archstone Consulting (Supply Chain Benchmarking), 2011.
(26) Intel ist der Leuchtturm der amerikanischen Halbleiterindustrie, die 1980 noch 90 % Weltmarktanteil hatte; heute sind es 10 %. Technisch komplexe Stepper, die „Druckmaschinen" der Branche werden seit Jahren nicht mehr hergestellt.
(27) „In America, quality trumps quantity and we can take pride in the fact that many of the world's best products are still made right here in the USA". Dazu: In Deutschland stuften vor 25 Jahren nur 6% der Befragten US-Produkte als „indica-tive of quality" ein.
(28) Beispiel New York: 1960 noch größte Industrie-Agglomeration Nordamerikas mit einer Million Arbeitsplätzen; aktuell sind es 150 Tausend.
(29) Liveris ist Chemical Engineer und ein seltener "advocate for the criticality of manufacturing to the long-term health of a nation's economy".
(30) NIST (National Institute of Standards and Technology (Agentur des amerikanischen Handelsministeriums) hat in bescheidenem Umfang eine Advanced Manufacturing Partnership aufgelegt.
(31) Steve Jobs antwortete auf die Frage, warum iPhone und iPad nicht in den USA hergestellt werden: „Diese Arbeitsplät-ze kommen niemals in die USA". Die Gründe dafür seien die geringeren Lohnkosten, vor allem die Flexibilität in der Fertigungsorganisation und das entsprechende Ingenieur-Know-how, das es in dieser Form in den USA kaum noch gebe. (VDI nachrichten, 27. 1. 2012, Nr. 4).
(32) Keynote Speech High Level Conference „Resuming Growth And Competitiveness In Europe Through ReIndustrialisation), Lisbon, 26/10/2012.
(33) Die OECD Kritik an der niedrigen Hochschülerquote in Deutschland, Österreich und der Schweiz relativiert sich durch die wesentlich geringere Jugendarbeitslosigkeit im Vergleich zu den angeblich vorbildlichen angelsächsischen Ländern.