Der Befund ist augenscheinlich: Rund um die Uhr reiht sich LKW an LKW auf den Autobahnen, nachts quellen die Rasthöfe über, weil die Fahrer ihre Ruhezeiten einhalten müssen. Bei einer Wachstumsprognose des Güterverkehrsvolumens von ca. 40 % zwischen 2010 und 2030 ist auch kein Ende dieser Entwicklung absehbar. Das Problem ist nicht neu. Kurz vor der Finanzkrise von 2008, die auch die Realwirtschaft in die Knie gezwungen hat, wurde vor dem Kollaps der Verkehrswege gewarnt. Daraus gelernt hat niemand. Gleichzeitig müssen wir uns klar machen, dass wir im Kern in einer Gesellschaft mit überwiegend gesättigten Bedürfnissen leben, dass wir – abgesehen von dem Hype um das jährlich neuste Smartphone – nur noch marginal mehr konsumieren.
Was sich in der Vergangenheit tatsächlich verändert hat, ist eine allgemeine Reduzierung der Wertschöpfungstiefen und ein zunehmender Trend zum Onlinehandel, die zusammen für eine drastische Verkehrszunahme sorgen.
Supply Chain Konzepte mit Systemfehler
Ein wesentlicher Grund für den so stark wachsenden Verkehr ist in dem zentralen Prinzip des Supply Chain Managements (SCM) zu sehen, das auf die Verringerung der Fertigungstiefe setzt. Vordergründig geht es um die Ausnutzung von Produktionskostenvorteilen (Personalkosten) an „billigeren“ Standorten.
Oft geht es nur um die Reduzierung der im eigenen Unternehmen gebundenen Investitionen. Dies wirkt sich vor allem in Bilanzkennzahlen wie Return on Capital Employed (ROCE) aus und wird immer wieder für die Ausgliederung von „produktiven“ Unternehmensteilen angewendet. Je weniger Personal und gebundenes Kapital dem Umsatz gegenüber stehen, desto höher die Kapitalmarktattraktivität.
Da in diesem bilanztechnisch begründeten Verhalten die Sicht auf operative Transportkosten nur nachgeordnete Bedeutung hat, wurden Ausgliederungen mit zum Teil höherem Transportaufwand in Kauf genommen. Kostenerhöhungen durch längere Wege wurden häufig bewusst klein gerechnet, was dem operativen Transportmanagement oft bitter auf die Füße gefallen ist. Denn dieses wird nach steigenden und nicht einholbaren operativen Kosten bewertet, nicht nach Bilanzkennzahlen.
Auch wo es um die Verlagerung aus Produktions-/Personalkosten geht, ist immer wieder festzustellen, dass in den Methoden bzw. Simulationstools zur Wirtschaftlichkeitsberechnung Transportkosten nur vereinfacht und mit unrealistisch optimistischen Werten berücksichtigt werden, während innerbetriebliche Faktoren hochakribisch einfließen.
Was nun in der ursprünglichen Einzelbetrachtung vielleicht noch zu einem klaren Nutzen geführt hat, ist aber, seit diese Art Supply Chain-Konzepte massenhaft kopiert eine Sogbewegung ausgelöst haben, ins Gegenteil verkehrt. Transport wurde zu einer knappen und kostensensitiven Dienstleistung. Die Folge war, dass man die Konzepte zur Kostensenkung als Druck auf die Logistikbranche weitergegeben hat, die dies bereitwillig aufgenommen hat. Die Folgen sieht man in der dramatischen Zunahme von im Verkehr sichergestellten Schrott-LKW und vor allem auch in den prekären Beschäftigungsverhältnissen meist osteuropäischer Fahrer.
Die Formel für viele Supply Chain-Entscheidungen, dass Transport nichts kostet, geht nicht mehr auf. Die Logistikbranche hat den Kostendruck zunehmend an osteuropäische Subunternehmer weitergegeben, die nun wiederum mit Subunternehmern arbeiten. Die großen Logistikkonzerne wie DHL haben zwar Vertragsbedingungen festgelegt, die Mindestlohn und Sozialbedingungen gewährleisten sollen. Auf die Umsetzung wird aber nicht so genau geschaut. Mit einem Mindestmaß an betriebswirtschaftlichem Verständnis kann man wissen, dass die mit den Subkontraktoren ausgehandelten Verträge am Ende der Kette nur noch prekäre Arbeitsverhältnisse schaffen.
Die Transportbranche nimmt billigend Verschleiß in Kauf. Selbst hart gesottene Logistik-Manager in der Industrie, die noch vor wenigen Jahren mit dem Argument „es gibt ja noch genügend andere auf dem Markt, wenn meine Dienstleister in Konkurs gehen“ ruinöse Konditionen durchgesetzt haben, sehen diese Alternative nicht mehr.
In einem ganz entscheidenden Punkt könnte dieses System jetzt aber auch brechen. In einem Musterprozess gegen die DHL klagt eine Gruppe von Sub-Sub-Dienstleistern Vergütungen ein, die ihnen von den direkten Vertragspartnern der DHL verwehrt werden. Nach geltendem EU-Recht ist so eine Klage gegen den Hauptunternehmer, also hier die DHL, wenn Mindestlöhne und Sozialvorschriften unterschritten werden, zulässig. Sollte sie, was abzusehen ist, erfolgreich sein, ist eine Kettenreaktion zu erwarten.
Supply Chain-Kosten werden auf die Allgemeinheit abgeladen
Die Kosten für Produktionsverlagerungen und die Bilanzoptimierung werden der Allgemeinheit auferlegt, indem Verkehrswege, Rastplätze, Häfen und Flughäfen massiv ausgebaut und immer mehr Flächen für logistischen Umschlag als Bauland bereit gestellt werden. Das fordert die die Bundesvereinigung Logistik in einem offenen Brief an die Bundesregierung anlässlich ihres Jahreskongresses im Oktober 2017. Verkehrswegeplanung und -umsetzung ist aber bekanntlich ein Prozess von Jahrzehnten.
Gleichzeitig gilt, dass der Verbrauch von Neuflächen für Bebauung (Straßen, Gewerbe, Wohnen) viel zu hoch ist. Die Bundesregierung hat sich in die Pflicht gesetzt, die Neuerschließung von ca. 74 ha pro Tag zu halbieren, die EU hat eine Reduzierung auf null gefordert. Auch wenn diese Ziele gegenwärtig missachtet werden, wird bald mal in den verkehrsstarken Ballungsgebieten Schluss sein mit neuem Bauland.
Online-Handel verschärft das Logistikproblem
Die geschilderten Probleme betreffen im innerstädtischen Verkehr auch den stark wachsenden Online-Handel. Gegenwärtig entwickelt man dort Vorstellungen von innerstädtischen Mikro-Logistikzentren, um die Zustellung möglichst durch Fahrradkuriere auf der letzten Meile sicherzustellen (u.a. der Vorschlag der Bundesvereinigung Logistik). Wie aber schon bei der Vorstellung der Flugdrohnen, bzw. erdgebundenen Zustellrobotern als Zukunft der Paketbelieferung stellt sich die Frage der Umsetzung. Angesichts von rund drei Milliarden zugestellter Paket- Express- und Kuriersendungen, wie viele Fahrradkuriere will man einsetzen?
Ähnlich wie bei Drohne und Roboter wird mit jeder Fahrt nur ein Paket oder es werden nur wenige kleine Pakete zugestellt werden können, wofür jedes Mal Rückfahrten ausgelöst werden Und wie viele Pakete passen wegen Abmessung oder Gewicht jeder zu Fahrrad, Drohne oder Roboter? Dafür müssen dann immer noch konventionelle Lieferfahrzeuge auf die Straße (abgesehen von Faktoren wie schlechtes Wetter, das den Einsatz von Drohnen oder Robotern faktisch unmöglich machen würde, wie auch Restriktionen wie fehlende Landeplätze für Drohnen, für Roboter blockierte Gehwege durch Kinderwagen, abgestellte Fahrräder, Mülltonnen oder abgestellte Fahrzeuge, etc.). Die deutsche Baubranche hat Anfang dieses Jahres das absehbare Ende des Baubooms in den Innenstädten angekündigt, weil schlicht der Platz für Neubauten fehlt. Wo sollen da die Mikro-Logistikzentren entstehen? Innenstädte allein nach den Vorstellungen der Logistikbranche zu entwickeln, Fußgänger, die auf den Gehwegen Platz machen müssen für ein Heer von Zustellrobotern, all dies stellt den Servicegedanken der Logistik auf den Kopf.
Das Problem mit den Sozialbedingungen findet sich zunehmend auch in der Kurier-Express-dienst (KEP). Berichte, dass Fahrer in ihren Fahrzeugen oder in Gruppen in Lagerhallen übernachten, weil sie nach der Zahl ausgelieferter Pakete und nicht nach Mindestlohn und geregelten Arbeitszeiten bezahlt werden, sind keine Ausnahme mehr. Auch dies geschieht unter den „wegsehenden“ Augen großer Paketdienstleister. Eine Ende 2017 von WDR durchgeführte Reportage zu diesem Thema führte prompt zu umfangreichen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft und Razzien.
Die KEP-Branche hat Ende 2017 deutliche Preiserhöhungen, insbesondere für die Haustürbelieferung angekündigt. Wenn wir uns aber Pakete wieder selbst abholen müssen, wo bleibt dann der Vorteil gegenüber dem Einkauf im stationären Handel? Gegenwärtig erleben wir einen Verdrängungswettbewerb des Online-Handels, gleichzeitig erleben wir aber auch, dass dieser vor allem im Präsenzhandel zerstörtes Terrain zurücklässt und sich Amazon z.B. in großen Flächen wieder aus der Lebensmittelbelieferung zurückzieht, weil diese nicht lukrativ genug ist. Übertriebenes Ego, gekoppelt mit einem Überschuss an verfügbarem Kapital, das ohne langfristiges Verantwortungsbewusstsein alles nach dem bloßen Prinzip von Versuch und Irrtum auszuprobieren meint, ist keine gesellschaftliche Option.
Digitalisierung des Transports ist keine Lösung
Die vielfach geäußerte Erwartung, dass Digitalisierung die Lösung der Probleme bringt, kann man zur Seite legen. In der Transportplanung, insbesondere der Auslastung von Frachtraum, gibt es nur noch marginale Spielräume, Die Vorstellung, dass es noch Potenzial zur Kostensenkung, gibt, ist zum großen Teil illusorisch. Auch technische Lösungen wie Drohnen und Roboter, die sicher für eng begrenzte Nischen einen Fortschritt darstellen, lösen das Grundproblem nicht. Dies gilt genauso für das so genannte Platooning, LKW-Konvois, die über elektronische Steuerung miteinander verkoppelt sind, um normale Mindestsicherheitsabstände auf Autobahnen zu unterschreiten, den Verkehr so zu verdichten, was alleine schon bei der hohen Dichte von Autobahnausfahrten in Deutschland zu einem Problem wird. Wie soll ein normaler PKW noch abbiegen können, wenn zukünftig nicht nur zwei sondern fünf oder zehn LKW miteinander gekoppelt sind?
Solange Waren nicht gebeamt werden können, bleibt nur der physische Transport. Da macht auch die Möglichkeit des 3D-Drucks keine Ausnahme, von dem vor nicht allzu langer Zeit noch die Fantasie ausging, er würde die Produktion zu uns nach Hause holen.
Umdenken ist dringend notwendig
Die Politik kann den Forderungen der Wirtschaft nach einem Ausbau der Verkehrswege natürlich folgen. Aber soll sie es überhaupt? Gemessen an den Zeithorizonten für Infrastrukturvorhaben und den gesellschaftlichen Widerständen gibt es keine kurzfristige Perspektive. Die Zukunft der Mobilität, - gleich ob im Güter- wie im Personenverkehr - kann nicht länger Mehr vom Gleichen bedeuten. Regulativ kann die Politik zwar durch Mauterhöhungen und -ausweitungen (z.B. zusätzliche Citymauts wie in London) reagieren, genauso wie eine konsequente Anwendung von Sozialvorschriften, die momentan offensichtlich vor allem bei den Gerichten liegt.
Die Lösung für die Anforderungen an die Supply Chains liegt nicht in der Optimierung des Transportes. Potential liegt in der Industrie 4.0. Dabei geht es aber nicht so sehr um den technischen Aspekt als um grundlegende Wirkungen auf das Sourcing und die Wertschöpfungstiefe. Mit der Vorstellung, die „Time to Market“ durch Digitalisierung zu reduzieren, wird nur das Ziel ins Auge gefasst, nicht aber die Quellen der Supply Chains. In diesem Denken sind lange Transportstrecken, die meist auch mit einer zeitlichen Mengenaggregation (z.B. ein voller Container aus Fernost) einhergehen, kontraproduktiv.
Die Beratungsbranche hat bislang das SCM als den Lösungsansatz angepriesen. Im gegenwärtigen Digitalisierungsboom wird generell zu kurzfristig gedacht. Es kommt jedoch darauf an, die gesamte Wertschöpfungskette zu optimieren, nicht nur die Strecke von der Produktion zum Endkunden. Auch das SCM mit neuen Planungstools auszustatten, greift zu kurz.
Gerade in Verbindung mit Industrie 4.0-Konzepten verliert das Thema Losgrößenoptimierung gegenüber dem Aspekt Time zu Market an Bedeutung. Dies spricht für marktnahe Produktionscluster, in der auch Zulieferketten mit kleinen Stückzahlen schnell reagieren können. Gleichzeitig verlieren globale Personalkostenvorteile an Bedeutung. Zum Beispiel hat sich das Lohnkostenniveau in China im Produktionsbereich dem der USA weitgehend angenähert. Neuerdings finden sich regelmäßig Berichte über US- und europäische Unternehmen, die aus diesen Gründen Produktionen zurückholen und Endproduktionen in Wachstumsländern aufbauen. Beispiele sind das neue Halbleiterwerk von Bosch in Sachsen, ein neues Wilo-Pumpenwerk in Dortmund oder die neue Schuhfabrik von Adidas in Franken, wo das Unternehmen nach Jahrzehnten erstmals wieder Schuhe in Deutschland produziert, bei Bedarf auf Kundenwunsch gefertigt und schnell lieferfähig. Solche Standortentscheidungen verändern dann die die gesamte Lieferkette.
Die Politik muss im weiten Feld der Logistik wieder aktiver werden. Dazu gehören in jedem Fall regulatorische Maßnahmen, die auch durchgesetzt werden müssen: Arbeitsverhältnisse auf ein zufriedenstellendes Niveau bringen, Kostengerechtigkeit bei der Nutzung der Infrastruktur durch Straße und/oderSchiene und eine Verlagerung auf umweltfreundliche Verkehre fördern. Und in der Industrie sollten vermehrt Konzepte wie Cluster, Plant in Plant zum Zuge kommen.
Das Management sollte sich verstärkt für kooperative Lieferantenbeziehungen einsetzen, weil auf diese Weise Kosten optimiert und Ressourcen besser genutzt werden können. Im Handel sollten vermehrt kreative, dezentrale und mit den Kommunen und Regionen abgestimmte Lösungen getestet werden. Verbraucher sollten über entsprechende Kostenbeteiligung zu einem überlegteren Bestellverhalten angehalten werden.
Mit Blick auf Umweltbelastung, Flächenverbrauch und erhaltenswerte Strukturen in Stadt und Land ist vorausschauendes Handeln in der Logistik zu einer Pflicht für Politik und Wirtschaft geworden. Die Grenzen des Wachstums der Logistik sind nicht mehr zu übersehen.
Andreas Seidel, März 2018
Logistik im Stau - Denkzettel 52 nachgeprüft:
Eine Replik von Andreas Seidel auf die von A.T.Kearney lancierte „Multilokalisierung“.
Aktuelles Beispiel der Wendefähigkeit von Strategieberatern. Mehr