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Unternehmen & Branchen
Denkzettel Nr. 75
20.08.2022

Wir-Qualität: Kooperation zur Stärkung von Handwerk, Klein- und Mittelbetrieben

von Sandra Siebenhüter

 

 

Energiekrise, Inflation(1), Fachkräftemangel(2), Lieferkettenunterbrechung(3): Diese vier apokalyptischen Reiter stellen bisherige Logiken und bekannte Wettbewerbsarenen für Unternehmen auf den Prüfstand. Die alleinige Fokussierung auf Produktivitätssteigerung, frühzeitiges Erkennen von Kundenwünschen und die Anschlussfähigkeit an technologische Entwicklungen greifen zu kurz. Geopolitische Entscheidungen der jüngeren Vergangenheit haben das Risikoprofil vieler Geschäftsmodelle deutlich verändert: Abhängigkeiten von Beschaffungs- und Absatzmärkten müssen überdacht und gegebenenfalls verringert werden. Wichtige Rohstoffe werden zu extrem knappen Gütern und regen zu Innovationen und Kooperationen an. Der Fachkräftemangel zwingt Unternehmen, Arbeitskräfte vermehrt durch digitale Lösungen zu ersetzen. Angesichts der Energiekrise nutzen weitsichtige Unternehmen die Impulse und stellen auf erneuerbare Energien um. Alles hat hohe Priorität und duldet keinen Aufschub.

Die Krise als Chance

Die jahrzehntelange Wettbewerbslogik führt unter diesen neuen Bedingungen insbesondere regional verwurzelte Handwerksbetriebe sowie Klein- und Mittelunternehmen immer tiefer in eine unheilvolle Spirale. Die wirtschaftliche und zugleich gesellschaftliche Krise sollte Anstoß sein, den Unternehmerbegriff erweitert zu denken. Denn Krisen, so der marxistische Philosoph Antonio Gramsci, sind ein ‚interregium‘, eine Zwischenzeit, in der „das Alte stirbt und das Neue noch nicht zur Welt kommen kann.“(4) Unter diesem Blickwinkel eröffnet die aktuelle Krise Gelegenheitsfenster und Möglichkeitsräume, welche neue regionale Handlungsmuster hervorbringen können und die es zu füllen gilt.

Kräfte bündeln

Denn was macht eine Region lebenswert? Neben der Natur sind es Angebote für die tägliche Nahversorgung (Produkte und Dienstleistungen), öffentliche Einrichtungen (Schule, Kindergärten, Gesundheitsversorgung) und hochwertige Arbeitsplätze bei Unternehmen vor Ort. Doch schon in der Vergangenheit kamen gerade Handwerksbetriebe stark unter Druck, da ihnen der Zugriff auf personelle, organisatorische und finanzielle Ressourcen fehlten, um ihren Betrieb zukunftsfest aufzustellen. Auch wenn sie „ihr Handwerk verstehen“, sind Investitionen in Werbung, Abrechnung, professionelle Fachkräfterekrutierung oder Investitionen in digitale Technologien, 3D-Drucker oder Laserschneidemaschinen für den Einzelbetrieb zu teuer.

Warum also nicht die Chance ergreifen und Einzelexpertisen und das Spezialwissen bündeln und in fehlende Ressourcen gemeinsam investieren? Dies könnten regionale Werbeauftritte, Einkaufsverbünde, ein gemeinsamer Personalpool, aber auch gemeinsames Management und Prozessbegleitung sein.

Die Realität bis heute ist jedoch: Handwerker der gleichen Branche sind Konkurrenten um Kunden und Personal. Und fehlende Ressourcen werden durch unbezahlte Mehrarbeit von der Familie oder den engsten Mitarbeitern abgefedert. Sollte der Wettbewerb um Fachkräfte und Lieferanten, die Anschaffung von Ausrüstungen und Einrichtungen, die Kosten für Marketing, Werbung und Klimaschutz weiter zunehmen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis immer mehr Betriebe kapitulieren müssen; Online Plattformen wie "my Hammer" oder "Blauarbeit" treiben den ruinösen Wettbewerb noch weiter an.

Lokale und Regionale Kooperationen

Gute Beispiele im Handwerksbereich oder in der Landwirtschaft verdeutlichen: Es geht besser, indem bewusst auf lokale und regionale Kooperationen unter Gleichgesinnten gesetzt wird. Denn massiver Wettbewerb mag kurzfristig zu mehr Effizienz führen, doch hier geht es um das langfristige Überleben für möglichst viele durch Vernetzung und Ressourcenteilung. Eine gemeinsame Landing Page im Internet kann dabei schon ein kleiner Baustein sein, um in einer Region für Kunden und Arbeitssuchende sichtbar zu sein und die regionale Verbundenheit der Bürger zu ihren Kleinunternehmen zu stärken.

  1. Handwerkerverbund Langemoosen: Mehr als ein Dutzend Handwerksbetriebe in einer Gemeinde haben sich im Bereich Bau und Modernisierung zusammengeschlossen, um dem Kunden „aus einer Hand“ qualifizierte Handwerksleistungen anzubieten. Die Vorteile liegen auf der Hand: Zeitersparnis für den Kunden, bewährte Übergabe an das nächste Gewerk und gegenseitige Qualitätskontrolle.
  2. Heimatunternehmen Bayern: Stärkung des ländlichen Raums durch Sichtbarmachung unternehmerischer Vielfalt, proaktiven Netzwerkaufbau zwischen Unternehmern einer Region („Heimatunternehmen Allgäu“, „Heimatunternehmen Röhn“ ) und Schaffung von Verbindlichkeit zwischen Bürgern und Unternehmen durch alternative Finanzierungs-/Investitionsmöglichkeiten.
  3. Werkraum Bregenzerwald: Bündelung handwerklicher Expertise im Bereich Wohnen und Bauen in einer Region. Präsentation nach außen durch Wettbewerbe und Stärkung nach innen durch Schulkooperation, um dem Fachkräftemangel zu begegnen.
  4. Maschinenringe Deutschland: Zusammenschluss von Landwirten, um wirtschaftliche Vorteile für jeden einzelnen zu schaffen. Dies gelingt durch den gemeinsamen Gebrauch besonders teurer Maschinen und Anlagen, aber auch durch zentral angebotene Dienstleistungen für Betriebe und die Vermittlung von Arbeitskräften bei Krankheit.
  5. Auch Ärzte schließen sich in Genossenschaften und Vereinen (Ärztegenossenschaft Hochfranken eG , Fürstenfeldbrucker Ärztenetz FAEN e.V , Praxisnetz GO IN e.V.) zusammen, um die Kompetenz zu bündeln, Flexibilität zu erhöhen und gegenüber der Politik und den Sozialleistungsträgern mit einer Stimme zu sprechen.

Ökonomische Vernunft als Richtschnur

Solche Verbünde wollen dem Denken in Säulen ein „gemeinsames Wir“ entgegensetzen und dabei für alle Netzwerkpartner, aber auch für Kunden einen ökonomischen Mehrwert bringen. Qualitätsbewusstsein, Vertrauen und persönliche Erfahrung sind dafür unentbehrlich. Und es bedarf wohl einer solchen Krise, um deutlich zu machen: Die Stärke jedes Einzelnen beruht auf der Verbindlichkeit und dem Eingebettetsein in einer Gemeinschaft.

Etablierte Institutionen unter Druck

Mit den Wirtschaftskammern - Industrie- und Handelskammern (IHK)(5) und Handwerkskammern (HWK)(6) - und den Innungen(7) existieren schon lange etablierte regionale Netzwerke. Jedoch regt sich zunehmend Widerstand gegen diese kollektiven Zwangsgemeinschaften, sie werden als undemokratisch und ungerecht empfunden. Klagen dazu sind bereits beim Bundesverfassungsgericht eingegangen(8). Der Ruf dieser Institutionen ist angeschlagen. Vielen Mitgliedern fehlt die versprochene Dienstleistungsorientierung; sie wünschen sich keine Aufsichtsbehörde, sondern einen Verband, der Türen aufmacht, Bedarfe der Unternehmen abfragt, Nutzengemeinschaften mitgestaltet, übergreifende Ressourcen bereitstellt und regionale Spezialisten vermittelt.

Solidaritätsressourcen sichtbar machen

Der erreichte Wohlstand ist das Ergebnis eines jahrzehntelangen Wirtschaftswachstums. Doch das vorherrschende Marktmodell stößt heute bei vielen Betrieben an seine Grenzen: Das veränderte Marktumfeld zwingt Unternehmer, ihr Geschäftsmodell anzupassen. Gesucht sind neue Geschäftsideen wie zum Beispiel Kooperation, Fusion, Spezialisierung oder Innovation; diese wollen durchdacht und getestet werden.

Handwerksbetriebe sind ebenso wie viele Klein- und Mittelständler sehr oft regional verwurzelt. Hieraus erwachsen unternehmerische Vorteile wie Kundennähe, Vertrauen, Kundenbindung oder niedrige Logistikkosten. Schließen sich mehrere regionale Betriebe zu einer Kooperation zusammen, können sie dieses Vorteilspaket weiter nutzen und sind gleichzeitig besser in der Lage, den veränderten Rahmenbedingungen Rechnung zu tragen.

Kommunen, Regionen und bestehenden Institutionen sind daher aufgerufen ihre Betriebe zu neuen Kooperationen einzuladen. Auch unter Wettbewerbsbedingungen gelingt solidarisches Handeln, wenn deutlich wird, wo der Mehrwert für alle und für jeden Einzelnen liegt. Die regionale Wirtschaft gilt es durch attraktive Arbeitschancen, höhere Sichtbarkeit ihrer Leistungsfähigkeit und durch betriebsübergreifende Angebote zu stärken, damit der Anschluss an die technologische Entwicklung auch für Kleinbetriebe möglich wird. Die gerechtere Verteilung gesellschaftlicher Lebenschancen gilt auch für Betriebe.

Kurz: Es geht um neues Denken im WIR9.

 

ANMERKUNGEN

(1) Im Juni lag die Inflationsrate der EU bei 8,6 Prozent, vgl. https://www.ecb.europa.eu/stats/macroeconomic_and_sectoral/hicp/html/index.de.html
(2) Das deutsche Handwerk sucht eine sechsstellige Zahl von Mitarbeitern und auch viele Ausbildungsplätze sind nicht besetzt: https://www.iwkoeln.de/studien/lydia-malin-helen-hickmann-fachkraeftemangel-und-ausbildung-im-handwerk.html Besondere Engpässe zeigen sich lt. der Bundesagentur demnach am Bau, in der Pflege, im Gesundheitsbereich und im Lebensmittelbereich: https://statistik.arbeitsagentur.de/DE/Navigation/Statistiken/Interaktive-Statistiken/Fachkraeftebedarf/Engpassanalyse-Nav.html;jsessionid=CE7C695A34A864931A16D97553032D21
(3) Vgl. dazu den ifo-Geschäftsklimaindex. Dieser lag im Juli 2022 bei 88,6 Punkten, der niedrigste Wert seit Juni 2020; https://www.ifo.de/fakten/2022-07-25/ifo-geschaeftsklimaindex-deutlich-gefallen-juli-2022
(4) Gramsci, Antonio: Gefängnishefte Band S., Hefte 2-3, Hamburg und Berlin 1991, S. 354
(5) Die IHK ist die Interessensvertretung von Unternehmern, Unternehmen sowie Selbstständigen (Gewerbetreibenden) in Industrie und Handel. Eine wichtige Aufgabe ist u.a. die Festlegung von Ausbildungsstandards und Fachprüfungen. Zur Finanzierung der Aufgaben gilt eine gesetzlich geregelte Pflichtmitgliedschaft. Weiter Ausführungen unter: https://www.gewerbeanmeldung.de/industrie-und-handelskammer-ihk
(6) Die HWK ist die Interessenvertretung für das Handwerk; die IHK die Interessenvertretung von Unter-nehmen in Industrie und Handel. Die Mitgliedschaft für einen Handwerksbetrieb in der HWK ist obligatorisch und sie übernimmt hoheitliche Aufgaben wie u.a. die Führung der Handwerksrolle, die Regelungen zur Berufsausbildung oder das fachliche Prüfungswesen. Weitere Ausführungen unter: https://www.gewerbeanmeldung.de/handwerkskammer-handwerksrolle
(7) Dabei handelt es sich um einen Zusammenschluss von Handwerksbetrieben des gleichen Gewerkes auf regionaler Ebene. Die Mitgliedschaft ist freiwillig und neben der fachlich, rechtlich und kaufmännisch Beratung stellen sie Siegel/Zertifikate aus, um spezifische Qualitätsmerkmale der jeweiligen Handwerkbetriebe hervorzuheben.
(8) Vgl. dazu: https://www.deutschlandfunkkultur.de/wirtschaftslobby-oder-zwangsverband-unternehmer-wehren-sich-100.html und https://www.juraforum.de/lexikon/industrie-und-handelskammer-ihk und https://www.handelsblatt.com/unternehmen/mittelstand/entscheidung-des-bundesverfassungsgerichts-die-belastungen-durch-ihk-beitraege-wiegen-nicht-schwer/20137014.html
(9)  Vgl. Spiegel, Peter (2015): WeQ, More than IQ – Abschied von der Ich Kultur, München.