Managerismus
Denkzettel Nr. 7
11.03.2009

Vorsprung durch Hektik? – Der Managerist als Pseudodynamiker

von Julius Lengert

In seinem Büro erreicht man ihn praktisch nie. Heute ist er  in Tokio, morgen in New York, übermorgen in Shanghai und danach in Moskau oder Helsinki. Vom heimischen Flughafen fährt er gleich ins Büro, ist aber  nicht zu sprechen, weil er mehrere Meetings in verschiedenen Abteilungen hat und zwischendurch ins Headquarter zur Vorstandspräsentation muss. Nur wenn man sich als Journalist ausgibt, der ein Interview mit ihm machen möchte, hat man eine Chance, denn für einen Medienauftritt hat er immer Zeit. Dazu drängt ihn schon sein persönlicher Imageberater. 

Aha, denkt man, das ist also auch einer von denen. Von denen, die einen überfüllten Terminkalender mit einem erfüllten Leben verwechseln und als Opfer ihrer mangelnden Sprachkenntnis unter ständigem Termindruck durch die Welt jetten: Figaro hier, Figaro dort, Figaro da, Figaro fort. Mangelnde Sprachkenntnis insofern, als sie offenbar Dynamik mit Tempo übersetzen und sich verhalten wie „der Marlon Brando mit seiner Maschin‘“ in Helmut Qualtingers Couplet „Der Halbwilde“, der sagt: „I hab zwar ka Ahnung wo i hi fuar, aber dafür bin i g‘schwinder durt“. 

Dabei hat Dynamik mit Tempo und Beschleunigung oder gar Hektik nichts zu tun. Dynamisch als Gegenbegriff zu statisch bedeutet: beweglich – und zwar im Kopf, also mental und geistig beweglich – im Gegensatz zu statisch und starr. Diese Pseudodynamiker aber handeln nach der Devise „Vorsprung durch Hektik.“ 

Von der „großen Kraft des geringen Tuns“ scheinen sie noch nie etwas gehört zu haben, und auch die alte bayerische Jägerweisheit „Es ist mehr Wild dersessen worden als wie derlaufen“ ist ihnen offenbar fremd. Was dem großen Mystiker Meister Eckhard als höchste Tugend galt, das „Stillesitzen auf dem Stuhle“, käme ihnen einer unzumutbaren Überforderung gleich. 

Nein, sie mögen manches können, aber stillesitzen können sie nicht. Ihr höchstes Streben ist ganz deutlich die Ubiquität. Offensichtlich hat ihnen keiner gesagt, dass Ubiquität – die Fähigkeit, an mehreren Orten gleichzeitig zu sein – auch in unserer mobilen, globalisierten Welt eine Eigenschaft ist, die nur dem höchsten Wesen zukommt, also Gott. Was treibt sie so um? Unstet und flüchtig in einem Maße, dass sie weder für sich noch für Andere Zeit haben, ja, dass sie Andere nicht einmal richtig wahrnehmen, geschweige denn ernst nehmen oder gar Mitgefühl und Mitleid aufbringen. Sie haben einfach keine Zeit dafür.  

Ganz sicher wissen sie nicht, was es bedeutet, wenn ein Mensch sagt: „Ich habe keine Zeit“. Wer das sagt, sagt nämlich: „Ich existiere nicht mehr. Ich bin tot.“ Der Mensch wird ja konstituiert durch die zwei Dimensionen Zeit und Raum. Fällt eine davon weg, hört er auf zu existieren. Im kollektiven Bewusstsein ist dieses Wissen noch vorhanden. Der Volksmund sagt, wenn jemand gestorben ist: „Er ist aus der Zeit gefallen“ oder „Er hat das Zeitliche gesegnet“, was in der Kölner Mundart zu der eigenartigen, aber grammatikalisch richtigen Konstruk-tion führt: „Unser Omma is dat Zeitliche am segnen.“ 

Ungeachtet dessen haben die Pseudodynamiker nie Zeit, sondern immer dringende Termine. Sie fragen nicht, ob etwas wichtig ist – oder nur dringend. Den Unterschied zwischen diesen beiden Attributen scheinen sie nicht zu kennen und damit wohl auch nicht die Fähigkeit zu besitzen, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, was allgemein als Kriterium für intelligentes Verhalten gilt. Sie unterscheiden allenfalls bei ihren dringenden Terminen zwischen Prio 1 und Prio 2. 

So heutig und modern sich diese Pseudodynamiker auch geben, bewusstseinsmäßig sind sie Kinder einer vergangenen Zeit.

Als sich vor mehr als 500 Jahren in Europa das später zum modernen, aufgeklärten, erst rationalen, dann zweckrationalen Denken führende „perspektivische Bewusstsein“ entwickelte, gehörte zu den wichtigsten und folgenreichsten Geschehnissen die Entdeckung der Perspektive durch die Fixierung des Auges und des Bewusstseins auf das Ziel, auf den „Fluchtpunkt“, in dem alle Linien und im übertragenen Sinne alles Streben zusammen laufen. 

Was sich zunächst nur in der Malerei auf der Leinwand abspielte, griff bald – weil dahinter eine bewusstseinsbildende Kraft steckte – auch auf das konkrete Leben der Menschen über. Bald zeigte sich: Der „Fluchtpunkt“ trug seinen Namen zu Recht, denn er entzog sich jedem Versuch der Annäherung. Die Folge war eine ständig wachsende Dynamik, Veränderung und Unruhe, die sich in der bis dahin statischen Welt ausbreitete. Nicht von ungefähr wurde in dieser Zeit die Uhr erfunden, deren charakteristisches Element die „Unruh“ ist. 

Mit der Erfindung der Uhr begann man die Zeit zu quantifizieren, sie zu zerstückeln, in messbare Einheiten einzuteilen. Die Folgen sind bekannt: Wir kennen heute die Zeit nur noch als Uhrenzeit, als Lieferfrist und Verfallsdatum. Die Zeit, die ihrer Natur nach eine Qualität darstellt, rächt sich für diese Vergewaltigung und Missachtung, indem sie uns als Quantität ständig davonläuft. So kommt es zu den Phänomenen, die unsere Zeit kennzeichnen: Zeitdruck, Zeitnot, Zeitangst – alles Folgen des im 16. Jahrhundert entstandenen perspektivischen Bewusstseins. 

Diese Bewusstseinsform wurde durch Einstein und Picasso und die anderen geistigen Vorreiter aus den Wissenschaften und Künsten obsolet und von einer neuen Bewusstseinsform abgelöst. Die Orientierung gebende Größe und verhaltenssteuernde Kraft ist heute das integrale Bewusstsein mit dem „kugeligen Denken“. Wer heute unter permanentem Zeitdruck, unter Zeitnot und Zeitangst lebt, ist in seinem Denken oder, genauer gesagt, in seinem Bewusstsein von gestern, weil er die Zeit immer noch als Quantität behandelt. 

So betrachtet geben die pseudodynamischen, permanent mobilen und hyperaktiven Manageristen ein paradoxes Bild ab. Äußerlich repräsentieren sie mit ihren Attributen der Mobilität und Ubiquität – Laptop, iPhone, Vielfliegerausweis und TurboVan mit Allradantrieb – den modernen multitasking-Menschen von heute. Was aber ihre Bewusstseinshöhe angeht, sind sie passé, weil sie sich an einem geistigen Auslaufmodell orientieren. Sie sind alles Andere als state of the art und geistig nicht auf der Höhe der Zeit, weil sie den heute angemessenen Umgang mit der Zeit nicht beherrschen. 

ZEIT gehört zu den sogenannten Urwörtern. Diese Wörter stammen aus der Zeit, wo noch das Ur-Eine herrschte, alles in-eins war und die Dinge noch nicht auseinander gefallen waren. Die Urwörter sind doppelwertig, sie haben beide ursprüngliche Bedeutungspole bewahrt. So gehen die Wörter Höhle und Helle auf die gleiche indogermanische Wurzel -kel zurück, das lateinische deus = Gott ist wurzelgemein mit dem englischen devil = Teufel, und wenn die Deutschen sich in italienischen Hotels die Finger verbrühen, weil aus dem Hahn, wo caldo drauf steht, heißes Wasser kommt, so liegt das nicht daran, dass die italienischen Klempner zu dumm sind, um Kalt- und Heißwasser richtig anzuschließen, sondern es kommt daher, dass das Wort mit der Ursilbe -cal = Temperatur im Germanischen den Bedeutungspol „kalt“ angenommen hat und im Italienischen den Pol „warm“. 

Am eindrucksvollsten und überzeugendsten ist das Wort ALL. Es bedeutet Überfülle, zur Gänze wie in allumfassend, Allmacht oder Weltall, kurz: Es hat sinngemäß die Bedeutung von „mehr geht nicht“. Wenn aber ein Kind alles aufgegessen hat und der Teller bzw. die Gummibärenschachtel leer ist, dann sagt es: „Es ist alle“. 

Zu diesen doppelwertigen Wörtern gehören auch die Wörter Muss und Muße. Auch sie bildeten einmal eine Einheit. Die ausschließlich vom perspektivisch-rationalen Bewusstsein geprägten Menschen kennen, betonen und überbetonen den einen Pol, das drängende, zwingende, unerbittliche „Muss“. Der andere Pol, „die Muße“, ist ihnen als Komplement nicht bewusst. Sie kommt als bedeutsame Größe in ihrem Bewusstsein nicht vor. 

Wenn man jetzt noch bedenkt, dass – wie im englischen Wort to muse = „sinnend über etwas nachdenken“ noch erkennbar – die Muse der Muße verwandt ist, also zu ihr gehört und nicht zum Muss, dann wird klar, dass die unter ständigem Zeitdruck Stehenden, die nur das zwingende, drängende Muss kennen, niemals von der Muse geküsst werden – was im Klartext heißt: Die allenthalben geforderten und dringend notwendigen Innovationen, welcher Art und auf welchem Gebiet auch immer, sind von diesen Pseudodynamikern nicht zu erwarten. Innovationen setzen Kreativität, innere Ruhe und Einfälle voraus, aber nur in einen Kopf und einen Geist, der offen ist und nicht bis oben zugestopft mit dringenden Terminen und Verpflichtungen, kann etwas hineinfallen. 

Bei Lichte besehen orientieren sich die dauermobilen, pseudodynamischen Managerismus-Figaros in ihrem Zeitmanagement und Verhalten nicht nur an einem geistigen Auslaufmodell, sondern ihr Verhalten ist im Sinne der heutigen Primärforderung an eine Führungskraft – kreativ und innovativ zu sein – kontraproduktiv, weil in ihrem Wörterbuch bzw. in ihrem PDA das Wort Muße nicht vorkommt.