In der zweiten Novemberwoche 2021 häuften sich Meldungen über Aufspaltungen konglomerater (1) Unternehmen. Prominentester Fall war GE. Der aus dem Zaibatsu (Familienholding) Mitsui stammende Toshiba-Konzern(2) und das größte amerikanische Medizinunternehmen Johnson & Johnson(3) folgten. Die „De-Conglomeration“ lag schon lange in der Luft. Nun erlebt sie einen historischen Durchbruch.(4)
Die Kapitalmärkte sehen sich in ihrer aktuellen Logik bestätigt. Gepriesen wurden die Vorteile einer stärkeren Fokussierung und die einer größeren Agilität der so geschaffenen neuen Unternehmenseinheiten – und erwartungsgemäß wurde die Formel von den Teilen, die mehr wert sind als das Ganze, ständig wiederholt. Im Falle von GE war die besondere Pointe der häufige Verweis, dass die amerikanische Industrie-Ikone “widerwillig den Dauerrivalen Siemens nachgeahmt habe“. Umgehend bekundeten bzw. twitterten der vormalige CEO von Siemens und der CFO große Genugtuung über die späte Einsicht der GE-Spitze.(5)
General Electric (GE) – ein lehrreicher Fall
Vergessen war die lange Lobpreisung von GE und ihrer Managementqualitäten von Seiten des Kapitalmarktes, der Strategieberater, Business Schools und Media. Zu lange blieben die manageristischen Übertreibungen unbeachtet, hielt sich der Eindruck besonderer Managementleistung dank fabrizierter Ertrags-/Dividendenkontinuität, legte sich der Schleier des Glamourösen um einen Traditionskonzern, der partout kein solcher mehr sein wollte.
Derweil muss die Unternehmensgeschichte nach 1980 bis zur Finanzkrise - und auch danach als The Big Failure bezeichnet werden. Denn es war Managerismus(6) pur, der bei GE exerziert wurde. Das Ansinnen war Größe - das größte, höchstbewertete Unternehmen der Welt zu werden, was um die Jahrtausend-Wende kurzfristig auch gelang -, stetig hohes Wachstum, Macht. Synergien waren hauptsächlich finanzieller Art, nämlich kommunizierende Cashflows zwischen GE Capital und den operativen Geschäften; am Laufen gehalten, um ständige Ergebnissteigerungen vorweisen zu können, fragwürdige Bewertungen und Bilanzierungstricks, kurzfristige, stark gehebelte Finanzgeschäfte, ein nicht nachlassender M&A-Turbo. Die zweite Klasse von Synergien wurde dem nach „boundarylessness“ strebenden exzellenten Management zugeschrieben, das befähigt ist, einen solch diversifizierten Komplex von Geschäften zu managen. Es war der „General Management“-Ansatz. Er fußte auf der Einbildung, dass ein GE-Mann alles und jedes managen kann/können muss, was eine ständige Job-Rotation nach sich zog und kurzfristige Aktionen auslöste, um möglichst engagiert zu erscheinen und gemessen an den finanziellen Zielen erfolgreich dazustehen. Um eine Vorstellung vom Diversifizierungsgrad zu geben: Allein der Finanzbereich, GE Capital, umfasste auf dem Höhepunkt, als er über die Hälfte des Unternehmensgewinns beisteuerte, 21 Sparten und war damit das am stärksten diversifizierte Finanz- und Versicherungs-„Institut“ weltweit.
Den dreißig Jahren des Kaufens und Verkaufens, des Stilllegens, Outsourcing und Offshoring unter Jack Welch und in der ersten Zeit unter seinem Nachfolger Jeffrey Immelt schloss sich die lange, deprimierende Zeit des „Konsolidierens“ an; ein Euphemismus für den Abverkauf, zunächst von Finanz-,Versicherungs-/Immobilienaktivitäten, der Rückzug aus dem Mediengeschäft (NBC)(7). Die Traditionsgeschäfte Hausgeräte, Lokomotiven und Leuchtmittel – der Ursprung von GE mit Edison als Erfinder der Glühlampe – wurden an den chinesischen Hersteller Haier und an Private Equity-Gesellschaften versilbert. Nach der jetzt angekündigten Aufspaltung bleiben übrig: das Kerngeschäft Aviation, das weiterhin als GE firmiert, Healthcare, an dem GE zwanzig Prozent halten will und die Energy Unit.(8) Das „E in GE“ ist nun ein kleines Residuum.
Bemerkenswert sind vier Fehlleistungen, die die Schwäche des General Managements besonders hervortreten ließen: Zum Ersten, die Unfähigkeit bzw. Ungeduld, Geschäfte zu sanieren(9, zum Zweiten, die chronische, vielseitige Innovationsschwäche, zum Dritten, die Vernachlässigung von Digitalisierung und der verschlafene, dann verstolperte milliardenschwere Einstieg in die Software(10) und zum Vierten, die verfehlte Praxis des Management Development, das konzeptionell von der Harvard Business School stammt, behaftet von Misstrauen und beherrscht von Rivalität.(11)
Die Geschichte von GE kann resümierend als Holzweg, als Road to Grandeur and Ensuing Deconstruction beschrieben werden;(12) oder wie vom Wall Street Journal kommentiert: „GE’s rise and fall is fundamentally a story of American capitalism.“ Diese Geschichte hat darüber hinaus nicht bezifferbare Kollateralschäden bei den zahlreichern „Followern“ des GE-Way, auch in Deutschland.(13)
Kategorien von Konglomeraten
Konglomerate Unternehmen gab es aus verschiedenen Gründen und in unterschiedlichen Formen. Abgesehen von historischen Firmengebilden der Zaibatsu/Keiretsu in Japan, der Chaebols in Südkorea, von sehr diversifizierten Unternehmensgruppen in Indien oder der Türkei(14) sollen in diesem Zusammenhang drei Typen unterschieden werden, die hauptsächlich in westlichen Industrieländern vertreten sind:
Das sind zum einen Konglomerate, die in einem günstigen Zinsumfeld und bei hoher Börsenbewertung entstanden sind. Investoren bzw. Unternehmer kauften einer hauptsächlich kapitalmarktgetriebenen Strategie folgend, in rascher Folge nach deren Einschätzung unterbewertete Firmen aus verschiedenen Branchen auf und brachten sie meistens unter ein Holdingdach. Das ist der Typus des finanzgetriebenen Konglomerats. Namhafte Beispiele in den USA waren ITT, Litton Industries, Ling-Temco-Vought, Teledyne, die von Investoren der Ost- bzw. West-Küste aufgekauft wurden. Angefangen hat diese Mode, die nachträglich als „speculative mania“ gewertet wurde, in den 1960er-Jahren und verschwand Mitte der 1970er-Jahre.
Ein Aufsehen erregender Fall war die Bildung des Food & Tobacco Konglomerates RJB Nabisco im Jahre 1985, der drei Jahre später erfolgte größte Leveraged Buyout (LBO) und die anschließende rasche Zerschlagung.(15) Ein neuerer Fall von De-Conglomeration ist United Technology Corporation (UTC), die 2020 sich nach einem Merger zu Raytheon Technologies gewandelt hat, mit Schwerpunkt Luft- und Raumfahrt (v. a. Pratt & Whitney). Zuvor hatte sich der Konzern von den Bereichen Aufzüge (Otis) und Klimaanlagen/-geräte (Carrier) getrennt. Die vorgebrachten Argumente für diese Schritte waren größere Effizienz und Konzentration.(16)
Die zweite Kategorie von Konglomeraten können im Unterschied zu den „zusammengekauften“ als organische, klassische charakterisiert werden. Kennzeichnend für diese ist der Ursprung in einer neuen Querschnitttechnologie bzw. Basisinnovation, die eine neue Branche entstehen ließ. Herausragendes Beispiel für einen solchen Fall ist die Elektroindustrie mit Unternehmen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert gegründet wurden mit Siemens, AEG, BBC, Asea, GE, Westinghouse, Philips. Innovationen, die aus den eigenen Firmenlabors stammten, oder auf dem Lizenzwege verwertet wurden, schufen einen ständigen Nachschub von neuen Geschäften. Über Vorwärtsintegration zu Anlagen und Netzen und über Rückwärtsintegration in Werkstoffe und Bauteile erweiterte sich das Leistungsspektrum und vervielfältigten sich die dafür notwendigen Fertigungen.
Die Geschichte von Siemens ist dafür exemplarisch: mit dem Anfang im Telegrafengeschäft (Siemens & Halske), mit dem Starkstromgeschäft (Siemens-Schuckert) und der Medizintechnik (Siemens-Reiniger) und einigen Spezialgeschäften. Die sich ständig erweiternde Elektrotechnik eröffnete immer neue Geschäfte: „Braune Ware“(Konsumelektrik/-elektronik), „Weiße Ware“ (Hausgeräte), Computer, Halbleiter, vor allem die allseitige Automatisierung. Der nationale „Champion“ Siemens wurde in der Zeit 1970 -1980 zu dem am breitesten diversifizierten Elektrounternehmen der Welt.
Signifikant für solche konglomeraten Konzerne war die Ausschöpfung von Economies of Scale, die mit der Massenfertigung und der sie ermöglichenden Fertigungstechnik erreicht wurden. Auch die in Geschäften wie der Energieerzeugung hohe Kapitalintensität und das damit verbundene (Auslastungs-) Risiko trieb die Konzentration von Branchenkonglomeraten.(17) In bestimmten Branchen entwickelten sich Unternehmen zu Konglomeraten vor allem aufgrund von Synergien in Marketing (Branding), Distribution, Beschaffung. Bekannte Fälle sind in der Nahrungsmittelindustrie Nestle und Unilever, in der Unterhaltungsbranche mit ihren eigenen Gemeinsamkeiten Disney und Comcast.
Die dritte Kategorie bilden die „neuen“ Konglomerate, die Plattformkonzerne. Das sind die amerikanischen monopolistischen Alphabet (Google), Apple, Microsoft, Amazon, Meta (Facebook)– und zum Teil die chinesischen Pendants Alibaba, Tencent, Baidu. Ihnen gemeinsam sind eine vielseitig andockbare Infrastruktur in Form von Betriebssystemen, Algorithmen, Austausch und Prozessierung von Daten für Dritte (Cloud Services). Die unterliegende Synergie ist der Netzwerkeffekt, der den Nutzen zusätzlicher Nachfrager/Nutzer vergrößert, weil Daten mehrfach verwendet und/oder vermarktet werden (können). Economies of Data schaffen offensichtlich nicht mehr überwindbare Eintrittshürden.
Die dadurch eingebaute Dynamik sorgt für höchste Renditen und führt gleichsam zu einer Monopolisierung bzw. Bildung von Oligopolen. Im Unterschied zur vorigen Kategorie eher nationaler Unternehmen sind die „Daten-Konglomerate“ globale Anbieter von Mehrfachdiensten als DVU (Datenverwertungsunternehmen), die unter Mithilfe von (un-) abhängigen Entwicklern und Service-Providern den kostenfreien Daten-Rohstoff auf vielfältigste Art verarbeiten. Als Referenz kann das ursprünglich auf Business Software spezialisierte Unternehmen Microsoft herangezogen werden, das sich auf Video Games, Cloud Services, Social Media Networks ausbreitete und weitere datenbasierte Geschäfte erschließen wird. Eine solche Vielfalt wurde überwiegend auf dem Wege zahlreicher Aufkäufe von Startups erreicht. Alphabet ist mit dem Unternehmenskern Google eine Ansammlung von Geschäften in der Konstruktion einer Holding. Eine Vorstellung davon vermittelt die Zahl von rund 200 Akquisitionen im Jahre 2016.
Die „neuen“ Konglomerate sind auch die größten Investoren in Forschung und Entwicklung.(18) Investiert wird in Künstliche Intelligenz, Quantencomputer, autonomes Fahren, Sprach-/ Bilderkennung, Übersetzungsprogramme, Netzwerkmanagement, Robotisierung, kurz das ganze Spektrum der Zukunftstechnologien, außer Life Science, Energie. Luft- und Raumfahrt.
Die Silicon Valley Player, alle Venture-finanzierte Startups,(19) haben zunächst ihr Leistungsspektrum erweitert, vertieft, aktualisiert und modernisiert, sich immer mehr in neue, aber datenverbundene Geschäfte hineinbewegt; so ist beispielsweise das Engagement von Apple bei E-Car zu verstehen. Die Annahme, dass sich diese Konglomerate halten werden, ist begründet, einmal weil sie sich so aufstellen, dass sie immer schwieriger aufgeteilt werden können.(20) Und weil sie ständig stark wachsen und in „Rentabilität schwimmen“. Der Kapitalmarkt ist zufrieden und aufgrund der Aktienstrukturierung haben die Gründer eine relativ freie Hand.
Kartellrechtliche Einschränkungen waren in Washington und in Brüssel nicht existent. Forderungen zu deren Einschränkung bzw. Zerschlagung häufen sich seit Kurzem, dennoch geht es unentwegt in Richtung Agglomeration weiter. Die „Master of Data“ zeigen großes Geschick bei der Gestaltung von Synergien und Marktmacht, ebenso Unverfrorenheit bei der Abwehr jeglicher Regulierung und Durchsetzung ihrer Spielregeln; sie sind überdies die größten Lobbyisten.
Bewertung der Konglomerate
Nach den Portfolio-Ansätzen, die sich vor allem an GE orientierten, hielten gegen Ende der 1980er-Jahre die Managementkonzepte Kernkompetenz (Core competency) und der Shareholder Value (SHV) Einzug in die Unternehmenswelt. Damit rückten Konzentration und Effizienz in den Vordergrund. Die zunehmende Shareholder Value-Ausrichtung brachte überdies eine starke Incentivierung des Top-Managements mit. Die Optimierung der Kapitalstruktur wirkte sich vorteilhaft auf die Ergebnislage aus und damit auf die Vergütung. Das Zusammenspiel von Kapitalmarkt, Management und Parabusiness lief auf eine Fokussierung, auf die Präferenz für Pure Plays hinaus. Folglich erhielten Konglomerate fortan einen Bewertungsabschlag von bis zu 20 Prozent. Wenige Unternehmen wie GE konnten sich mit Hinweis auf ihre „einzigartigen“ Managementfähigkeiten dem eine Zeitlang entziehen.
Bemerkenswert ist die kurze Lebensdauer finanzgetriebener Konglomerate; sie liegt bei 10 – 20 Jahren. Beim Paradeunternehmen ITT erfolgte die Konglomerisierung in der Zeitspanne von 1959 bis 1978. Danach zog sich die Konsolidierung, der Abverkauf über zwanzig Jahre hin und endete in der Aufspaltung des Rests. Bei GE erstreckte sich dieser Zyklus von den 1980er Jahren bis 2007. Danach kamen 13 Jahre Divestitures bis zur angekündigten Aufspaltung, die 2022/23 abgeschlossen sein soll. So viel steht fest: Konglomerate, so sie nicht natürlich gewachsen, werden nie zu der Klasse der langlebigen Unternehmen angehören.
Die Ursachen dafür sind die wiederholt genannten Nachteile: Mangel an Konzentration, Schwerfälligkeit, zusätzliche Managementebenen, Komplexität, Größe (Too Big To Fail), Markenverwässerung, Bewertungsabschlag. Wenig erwähnt, ist die „Kulturlosigkeit“ bzw. der „Multikulti“-Status aufgrund des Zusammenschlusses vieler Unternehmen mit ihrer eigenen Geschichte. Das ist aber eine essentielle Schwäche, insbesondere der zu einem großen Teil extern gewachsenen Konglomerate.
Kultureller Kitt lässt sich nicht durch große Strategieentwürfe(21), sophistcated Systeme und Formalia ersetzen. Unternehmen mit einer starken Kultur wirken anziehend und bindend auf Mitarbeiter und Kunden. Dieses Hidden Asset wird von Kapitalmarktvertretern und Manageristen gewöhnlich verkannt. Der große Managementlehrer Peter Drucker drückte die Bedeutung der Unternehmenskultur so aus: „Culture eats strategy for breakfast.“
Die Klammer von Konglomeraten ist im Allgemeinen nur managerieller Natur, vom Controlling bestimmt, der gemeinsame Nenner ist die „Kapitalmarktlogik“. Ein deutsches Traditionsunternehmen, das in diesen Modus wechselte, war die Mannesmann AG(22) mit dem Erwerb einer Reihe mittelständischer Unternehmen zum Zwecke der Diversifikation. Dem Konzern gelang der Aufbau des Bereiches Mobilfunk; er wurde nach Herausnahme dieses Zukunftsgeschäftes im Zuge der feindlichen Übernahme durch Vodafone auf seine Einzelteile reduziert und zwischen Bosch und Siemens aufgeteilt.
Für den Kapitalmarkt sind Unternehmen Investment-Targets. Weil Konglomerate intransparent erscheinen, sich Analysten eine bessere Einschätzung der Renditekraft als das Management zubilligen, aber der investive Zugriff auf einzelne Geschäfte verwehrt ist, wird die Auflösung verlangt. Denn der Kapitalmarkt verträgt die für Konglomerate typische interne Kapitalallokation nicht; er sieht sich als der effizientere Portfolio-Manager.
Für die Stakeholder, an erster Stelle für die Mitarbeiter stellt sich die Unternehmenswelt völlig anders dar; für sie sind Unternehmen soziale, produktive Einheiten/Gemeinschaften. Soziale Bindung ist zentral, sie gilt über die Unternehmen hinaus für einbezogene Kommunen, für nahestehende Dienstleister, Partnerschaftsunternehmen in lokalen/regionalen Clustern. Der Wechsel im Unternehmen ist bei einer gleichen oder verwandten Kultur leichter. Daimler, Siemens(23) waren Beispiele für eine ausgeprägte Unternehmenskultur, die zusehends an innerer Stärke einbüßten, im Unterschied zum Stiftungsunternehmen Bosch. Gemeinschaften unterscheiden sich fundamental von flüchtigem, vagabundierendem Kapital. Konglomerate ohne eine starke Kultur sind zerbrechlich und bieten keine Vorteile von Dauer. Das wird der Lackmustest für die neuen Digital-Konglomerate werden.
Fazit: Was lehrt die Geschichte der Konglomerate
Aus der Geschichte, den Fehlern und Erfolgen anderer zu lernen, ist eine ständige Aufgabe. Im Folgenden werden sechs Schlussfolgerungen gezogen, die jedoch hinterfragt gehören.
Erstens: Um ein Geschäft unternehmerisch führen und gestalten zu können, braucht es ein gutes Geschäftsverständnis. Nur auf diese Weise können Synergien erschlossen und das Unternehmen einzigartig gemacht werden. Die Übergewichtung finanzieller Aspekte und Geschäftsprozesse kontrastierte bei GE mit einem unterentwickelten Verständnis für Digitalisierung, Sensorisierung, digitale Netzwerke, von Software und Innovation überhaupt. Auf der anderen Seite zeichnen sich Hidden Champions (Familien-/Stiftungsunternehmen) durch ein hohes Maß an Erfahrungswissen in ihrem jeweiligen Geschäft aus. Darüber hinaus sind sie im guten Sinne konservativ, was Bindung und Verpflichtung gegenüber Mitarbeitern angeht.
Zweitens: Vielgeschäftsunternehmen (Multibusiness Corporations) pflegen ein Portfolio-Management und praktizieren das Role Model des General Managers. GE hatte eine Managementwicklung des „wide not deep“, das heißt, dass der Weg an die Spitze nur über häufige Jobwechsel möglich war. Das widerspricht der Erfahrung, dass es in den meisten Fällen eine geraume Zeit braucht, sowohl die „Materie“ gut zu verstehen als auch die Mitarbeiter gut zu führen.
Drittens: Der Finanzseite eines Geschäftes/Unternehmens kommt immer eine unterstützende Funktion zu, vorneweg eine effektive Auftragsfinanzierung. Bei GE dehnte sich die Finanzierungsfunktion dagegen in alle Richtungen aus. Bei Siemens galt die vom Vorstandsvorsitzenden Heinrich v. Pierer verordnete Auflage, keine eigenständigen Finanzgeschäfte nach Art von GE Capital zu machen. In der Finanzkrise von 2008 erlebte GE ein Debakel, das nur mit Hilfe von Warren Buffet und dem US-Department of Treasury bereinigt werden konnte.
Viertens: „Schuster bleib bei deinem Leisten“ ist ein scheinbar überholtes Gebot. Es besagt, dass organisches, internes Wachstum immer Vorzug hat und Diversifizierung im Wesentlich zur Arrondierung des Geschäftes eingesetzt werden soll. Das trifft übrigens auf den Großteil der von den großen Digital Playern übernommenen Unternehmen/Startups zu. Diversifizierung ist stets mit Maß zu betreiben, weil sie ansonsten vom eigentlichen Geschäft ablenkt und zur Überforderung von Management und Mannschaft führt.
Fünftens: Wachsamkeit gegenüber grundlegenden Veränderungen für das Geschäft/Unternehmen, Konzentration auf das Kerngeschäft, große Agilität und vor allem eine konservative Finanzierung sind Merkmale langlebiger erfolgreicher Unternehmen. Konglomerate verfehlen in den meisten Fällen diese Kriterien nachhaltiger Unternehmensführung. Und den meisten fehlt eine verbindende, gelebte Unternehmenskultur. Kurzfristigkeit steht ihrer Entfaltung und Pflege entgegen. Das Management legt häufig keinen oder wenig Wert auf „Kultur“, weil es trotz allen Geredes von Leadership wenig davon versteht und auch nicht dazu motiviert ist. Denn die Anreize zeigen alle in Richtung Kapitalwert-Steigerung.
Sechstens: Das Eigeninteresse des Parabusiness ist kapitalmarktgetrieben und auf Transaktionen fixiert. Diese Interessenslage deckt sich häufig nicht mit dem unternehmerischen Willen und den Belangen der anderen Stakeholder, namentlich der Belegschaft. Die Vorliebe der Business Media und des Parabusiness(24) für M&A-Transaktionen ist überaus kritisch zu sehen. Der Kollateralschaden aus einer forcierten Veränderung von Unternehmens-/Marktstrukturen ist nicht zu vernachlässigen.
Ein übergeordnetes Ziel der Unternehmensführung ist, dass das Ganze, also das Unternehmen, mehr wert sein soll als die bloße Summe seiner Teile. Eine Bewertung allein aus Sicht des Kapitalmarktes greift jedoch zu kurz.
Vertiefendes
- Wachstumssucht und Folgekosten - Einsicht Nr. 6
- General Electric (GE): Zurück zum Kern -Denkzettel Nr. 42
- GE Was Once a Model for Siemens but Now Follows Its Rival’s Path; WSJ 12.11.2021
- The Break-up of Big Corporations -Denkschrift Nr. 32
- Transaktion oder Innovation: Käufe und Verkäufe von Unternehmen/-steilen am Beispiel Siemens - Denkschrift Nr. 18
Anhang
Siemens – die Re-Fokussierung
Der folgende Abschnitt der Geschichte des „Hauses Siemens“ beginnt im Jahre 1998 mit dem 10-Punkte-Programm des Vorstandsvorsitzenden Heinrich v. Pierer. Siemens wurde nach der größtenteils gemeisterten Integration der Aktivitäten in den Neuen Bundesländern vor weitere Herausforderungen gestellt, v.a. die zunehmende Globalisierung mit Schwerpunkt China und die Deregulierung durch die EU. Wegen geringer Rentabilität und eines relativ schwachen Wachstums erhöhte sich der Druck vor allem von Seiten von US-Investoren beträchtlich, was einschneidende Änderung des Unternehmensportfolios auslöste.
Angefangen hat die Optimierung der Geschäftsstruktur 1999 mit der Überführung des Bereiches Passive Bauelemente in die EPCOS AG, das Joint Venture mit Matsushita und der Börsenplatzierung noch im selben Jahr. Das Unternehmen war zeitweise im Dax gelistet. Später erfolgte die Übernahme durch TDK Electronics und danach durch Qualcomm. Der nächste Schritt war der Verkauf des Unternehmenszweiges Elektromechanische Komponenten (ECR) an das US-Konglomerat Tyco. Eine umfangreiche Transaktion war der Ausstieg aus dem zyklischen, kapitalintensiven Halbleitergeschäft bzw. der Herstellung von Chips. Auf die Verselbständigung folgte 2000 die Platzierung im Dax als „Infineon Technologies AG“. Die
Abtrennung des Komponentengeschäftes umfasste 17 Mrd. DM Umsatz, erfasste 60 Tausend Mitarbeiter, knapp ein Fünftel der Siemens AG.
Einem zunehmenden Wettbewerbsdruck war die Cash Cow, die Kommunikationstechnik (COM) ausgesetzt. Im Rahmen der „aktiven Portfoliopolitik“ wurde 2006 die Trennung vom früheren Traditionsbereich der Nachrichtentechnik, eingeleitet. Es begann mit dem Verkauf des Handygeschäftes (Siemens Mobile) an das taiwanesische Unternehmen BenQ und setzte sich 2007 mit der Zusammenlegung des Kommunikations-Netzgeschäftes mit Nokia zu Nokia Siemens Networks fort. Der Rückzug aus der Fujitsu Siemens Computers (FSC) bei PCs und aus Siemens Enterprise Communications (SEN) folgten.
Aus dem verbliebenen Datengeschäft (ehemals Siemens Nixdorf Informationssysteme (1990 gegründet, 1998 aufgelöst) wurde die Siemens IT Solutions and Services (SIS) veräußert, Siemens Convergence Creators an Atos Origin verkauft. Desweiteren wurden die Telefongeräte (SHC) abgetreten, außerdem die Beteiligung an Krauss-Maffei Wegmann (KMW) aufgelöst. Die immer schon relativ eigenständige OSRAM GmbH wurde vor dem Hintergrund des Technologiewandels zu LEDs 2013 an die Börse gebracht. Der Minderheitsanteil von Siemens wurde alsbald aufgelöst.
Unter der Leitung des CEO Joe Kaeser wurde die „Strategie der sorgfältigen Konzentration auf unsere Kerngebiete“ gefahren. Diese bedeutete die Aufgabe der Solarthermie (Sole Solar Systems Ltd.). Nach großen Abschreibungen wurde der hälftige Anteil an NSN an Nokia abgegeben. Siemens hatte sich damit endgültig von seiner ersten Wurzel getrennt.
Die Verkäufe waren in Summe für die Übernehmer günstig, weil sie aus einer Position der Schwäche bzw. Bedrohung zustande kamen. Mit dem 2015 erfolgten Verkauf des Anteils an dem seit 1967 bestehendem Gemeinschaftsunternehmen für Hausgeräte wurde die finale Trennung vom Konsumgütergeschäft vollzogen. Die geplante Einbringung des Mobilitätsgeschäftes (Bahntechnik) in ein Joint Venture mit Alstom kam wegen kartellrechtlicher Einwände nicht zustande. Dieser Bereich wird vom Kapitalmarkt aber weiterhin als Kandidat für eine Neuordnung angesehen.
Die großen Verselbständigungen waren 2014 Siemens Healthineers, das Medizingeschäft, das vier Jahre später erfolgreich an der Börse platziert wurde, an dem Siemens einen Anteil von 75 Prozent hält; und 2019 Siemens Energy, das Energiegeschäft, mit anschließender Platzierung von 65 Prozent des Kapitals.
Weitere Verkäufe wurden getätigt bzw. stehen an: der in der Antriebstechnik, im Besonderen in Windturbinenantrieben tätigen Flender GmbH an den Private Equity (PE) Investor The Carlyle Group (wurde 2005 von einem PE-Unternehmen gekauft) und das Gebiet der Large Drives (LDA). Die unter der Rubrik Portfolio-Unternehmen stehenden Geschäfte Siemens Logistics, Commercial Vehicles, Mechanical Systems & Components sind nächste Kandidaten.
Siemens hat in den letzten zwanzig Jahren die vom Kapitalmarkt erwartete und vom CEO angestrebte Fokussierung auf ein reines Technologieunternehmen weitgehend vollzogen. Die Automatisierung bietet eine breite Basis der Verknüpfung von der physikalischen Welt mit der digitalen und damit großes Potential für Wachstum - und wieder für Diversifizierung.
Heute ist Siemens mit drei Gesellschaften im Dax vertreten. Im Blick zurück muss die Frage gestellt werden, ob die aufwändige Zusammenführung von 1969 der drei Gesellschaften (Halske, Schuckert, Reiniger) zur Siemens AG ihren Zweck erfüllt hat.
Mit dem Denkzettel Nr. 28 („Siemens hat die Kraft der Erneuerung“) wurden 2013 eine durchgehende Vereinfachung, die ständige Pflege des „Siemens Geistes“ und eine behutsame Aufspaltung empfohlen.
„Vereinfachen allein reicht nicht. Siemens muss kleiner werden, um wieder größer und robuster zu werden. Das ist kein Widerspruch! Mit Osram ist ein Schritt gemacht. Der nächste Kandidat für eine Verselbständigung ist die Medizintechnik, die mit „Elektrifizierung" wenig gemeinsam hat. Der Kern von Siemens ist dann „Schuckert": Energieerzeugung, -übertragung und -verteilung, Antriebstechnik, Automatisierung und Vernetzung in Industrie und von Infrastrukturen sowie Verkehrssysteme. Allein der Bereich Energieerzeugung ist mit 28 Milliarden Euro Umsatz unter den Dax-30 ein potentielles industrielles Schwergewicht der ansonsten Automobil-lastigen deutschen Börsenlandschaft.“
Im Denkzettel Nr. 11 vom Januar 2010 wurde vor dem Verlust der eigenen Identität durch eine „General Electric“-isierung gewarnt.
ANMERKUNGEN
(1) Konglomerat bedeutet bildungssprachlich Gemisch, in der Geologie Sedimentgestein, das durch Bindemittel verkittet ist. Für gewöhnlich wird Konglomerat als stark diversifiziertes Unternehmen bezeichnet.
(2) Toshiba teilt sich auf in einen Bereich Infrastructure, Electronic devices und in die Holding Toshiba mit der Halbleitergesellschaft (Flash memories) Kioxia und weiteren Geschäften.
(3) Das Unternehmen will sich innerhalb von zwei Jahren in eine Consumer Firm (Firma noch nicht bekannt) und einen Pharma & Medical Device-Teil (unter J&J) aufspalten.
(4) Die jüngste Aufspaltung eines Dax Konzern ist die der Daimler AG in Daimler Trucks und Mercedes-Benz.
(5) Siehe v. a. Wall Street Journal, 12.11.2021: „GE Was Once a Model for Siemens but Now Follows Its Rival’s Path.”
(6) Zur Beschreibung von Managerismus: https://www.managerismus.com/themen/managerismus/info/erlaeuterung
(7) Hervorzuheben sind der überteuerte Kauf von Alstom, das schlecht getimte Engagement im Bereich „Oil & Gas“.
(8) Der unmittelbare Break-up Aufwand (Restrukturierung, Verträge, IT, Bewertung) wird von GE auf zwei Mrd. USD und weitere 500 Mio. USD Steuern angesetzt.
(9) Es ist kein einziges größeres Geschäft bekannt, das GE erfolgreich saniert hat. Der Ausweg war Verkauf oder Stilllegung.
(10) Die Investition allein in den Software „Center of Excellence“ in San Ramon in Calf. belief sich auf über 1 Mrd. USD. Das Versprechen von J. Immelt, bis 2020 zu den 10 größten Softwarehäusern zu gehören, blieb indes Makulatur. 2016 hieß es: “Predix is set to become the world’s first and largest marketplace for industrial applications.”
(11) Verwiesen sei auf die Formel 20-70 -10 (Rank and Yank-Model), nachdem GE sich jährlich vom „schlechten Zehntel“ der Belegschaft trennt.
(12) Mehr dazu unter Managerismus, v.a. https://www.managerismus.com/themen/unternehmen-branchen/denkschrift-nr-29 (GE- eine lange Geschichte manageristischer Hybris)
(13) Dazu zählte insbesondere Daimler (unter Schrempp) und in Teilen Siemens (unter Kleinfeld) - jeweils beraten von McKinsey.
(14) Z.B. Tata und Reliance Group in Indien und die Koç-Gruppe in der Türkei.
(15) “The Fall of RJR Nabisco” erlangte unter dem Titel „Barbarians at the Gate” als Buch und Film Berühmtheit.
(16) Auf die Konglomerate der chemischen Industrie (namentlich BASF, Bayer, Dupont, Dow Chemical), ihr Entstehen und ihre gänzliche (v.a. Hoechst) oder Teilauflösung wird an dieser Stelle nicht näher eingegangen. Parallelen sind aber offensichtlich.
(17) Ein in diesem Zusammenhang besonders zu beachtendes Beispiel war IBM.
(18) Amazon, Alphabet, Apple, Microsoft geben jeweils (abhängig von der Berechnung/Definition) das jeweils Drei- bis Fünffache von Siemens oder IBM aus.
(19) Die Gründungsdaten der „Neo Conglomerates“: Microsoft (1975), Google (1998), Amazon (1998), Facebook (2004).
(20) Eine Analogie zu Früchten: Die „neo- Conglomerates“ gleichen Melonen, nicht Trauben mit Stilgerüst und einzelnen Beeren.
(21) Beachtenswert sind die Blüte der Strategieabteilungen in vielen Dax-Konzernen und die Dauerkonjunktur der Strategieberatung in Deutschland. Die Performance war dennoch unterdurchschnittlich. Siehe dazu Denkschrift Nr. 34 Warum viele Dax-Unternehmen schwach abschneiden
(22) Das 1890 gegründete Unternehmen war v.a. nach 1980 auf Diversifikationskurs; es wurde 2000 aufgelöst.
(23) Während der letzten zwanzig Jahre stand Strategie im Mittelpunkt. Die Pflege der Kultur des „Siemens Geistes“ war abgesehen von einer zwischenzeitlichen Betonung der Eigentümereinstellung (Jeder soll denken und handeln, wie wenn es sein/ihre Unternehmen wäre) nachrangig.
24) Siehe dazu Managerismus: Denkschrift Nr. 21 und Nr. 23
(25) Tyco war ein US-Konglomerat, das nach dem Muster von GE äußerst expansiv gebildet wurde und wenig später infolge von Buchführungs- und Bilanzierungsvergehen in die Insolvenz ging.