Die deutsche Industrie steht vor der Einführung von Industrie 4.0 und damit vor großen Automatisierungsinvestitionen. Gründe für eine personalarme Fertigung waren früher hohe Lohnkosten, kurze Bearbeitungszeiten und die Entlastung der Werktätigen von schwerer körperlicher und von gefahrvoller Arbeit. Heute werden zusätzlich genannt: die Komplexität der Produkte und Prozesse, die hohen Qualitätsanforderungen, vor allem aber die Möglichkeit auch kleine Stückzahlen wirtschaftlich fertigen zu können. Mit der Fertigung der Losgröße 1 wurde das seit der ersten industriellen Revolution angestrebte Ziel jedes Produktionsunternehmens, die Flexibilität des Handwerks mit der Wirtschaftlichkeit der Massenfertigung zu verbinden, erreicht.
Automatisierung – ein evolutionärer Prozess
Der Begriff Automatisierung wurde geprägt durch den Einsatz von Montagerobotern. Es waren die Fortschritte in der Produktionstechnik, die den Übergang von der kundenanonymen zur kundenauftragsbezogenen Massenproduktion ermöglichten. Die rechnerunterstützte Automatisierung in der Fertigung vollzog sich schrittweise:
- Mikroprozessorgesteuerte Automaten
- Roboter übernehmen Handlingaufgaben - zunehmender Einsatz in Montage und Prüfung
- Verkettung einzelner Fertigungsprozesse zu flexiblen Fertigungssystemen (FFS)
- Durchgängige Integration der unterschiedlichen flexiblen Fertigungssysteme zu einem fließenden Gesamtsystem
Vor 30 Jahren wurde der vierte Schritt mit CIM gegangen und die computergestützten Verfahren der Produktentwicklung, der Fertigung, der Qualitätsplanung und der Produktionsplanung und -steuerung integriert. Diese Entwicklung war verbunden mit hohen Realisierungskosten und einer großen Komplexität - und war unflexibel. Viele Aspekte konnten damals aufgrund der noch nicht ausgereiften Informationstechnologie nur sehr begrenzt realisiert werden. CIM kann als Vorläufer der vierten industriellen Revolution gesehen werden. Industrie 4.0 ist jedoch nicht die Neuauflage von CIM. Allerdings kann man aus den Erfahrungen von CIM für die Entwicklung von Industrie 4.0 lernen, dass eine zunehmende Automatisierung gleichzeitig eine abnehmende Flexibilität zur Folge hat. Produktivität und Erhöhung der Flexibilität müssen jedoch künftig im Vordergrund stehen.
Modell Smart Factory
Kernelement der Industrie 4.0 ist die „Smart Factory“. Die Fertigung ist vollautomatisiert und vernetzt. Die Automaten können ohne menschliche Eingriffe untereinander kommunizieren und sich weitgehend selbst organisieren. Damit kann die Industrie auf die Forderungen der Kunden reagieren, Produkte nach ihren eigenen Wünschen und Bedürfnissen zusammenzustellen. Detlef Zühlke, Forschungsleiter am Deutschen Forschungsinstitut für Künstliche Intelligenz, mahnt jedoch:
"Wir müssen nicht alles vernetzen, wenn der gleiche Mehrwert auch mit einfachen Mitteln zu erreichen ist."
Die individuelle Produktion nach Kundenwunsch setzt die Fertigung nach Losgröße 1 voraus. Die Forderung einer flexiblen Produktion ist wichtig, aber nicht allgemein gültig. Denn Massenprodukte werden auch in der kommenden Zeit nachgefragt werden. Daher werden auch in der Zukunft nicht jedes Produkt und jede Lösung individuell gefertigt sein müssen. Es gibt in Deutschland Beispiele für Massenproduktion (z.B. Haushaltsgeräte). Starre Automatisierungslösungen werden allerdings im Hochlohnland Deutschland kaum mehr wirtschaftlich sein. Die Zukunft gehört der flexiblen Automatisierung. Dabei spielt der Mensch eine wichtige Rolle. Auf dem Weg zur digitalisierten Fabrik sind noch einige Hürden zu nehmen und auch Erfahrungsregeln zu beachten. Die größten Hürden sind die fehlenden hochqualifizierten Mitarbeiter mit „digitalen“ Fähigkeiten und die Sicherheit der Daten.
Flexibilität: Schlüsselfaktor für die Produktion in Deutschland
Der Trend in Richtung Flexibilisierung ist auch aus den Erfahrungen mit CIM eine der wichtigsten Herausforderungen für die Produktion der Zukunft (Prof. Dieter Spath, IAO). Auch wenn es bei einer flexiblen Automatisierung möglich ist, kleine Stückzahlen wirtschaftlich zu fertigen und auf Kundenaufträge besser eingehen zu können, so wird es im Zuge zunehmender Produktdifferenzierung und kürzerer Produktlebenszyklen immer schwerer, spezielle Kundenforderungen zeitnah zu erfüllen. Das System kann nicht schnell genug auf die Trends und Kundenwünsche reagieren. Die Automatisierung stößt an die Grenzen der wirtschaftlichen Flexibilität. Eine Untersuchung des Fraunhofer Instituts IAO ergab, dass der Trend zur Vollautomatisierung nur begrenzt eine Zukunft hat. Bei mehr als einem Drittel der Unternehmen, die Automatisierungsprozesse eingeführt hatten, konnten die Erwartungen nicht erfüllt werden. In der Automobilindustrie wurde daher in mehreren Unternehmen die Automatisierung zurückgefahren, um dadurch deutlich an Flexibilität zu gewinnen und die Kundenwünsche individueller umsetzen zu können Die Unternehmen sind gezwungen, ihre Reaktionsfähigkeit auf Marktschwankungen immer stärker aus der Flexibilität ihrer Mitarbeiter heraus sicher zu stellen. Hier kommt die Überlegenheit des Menschen zum Zuge, seine Flexibilität, Kreativität und Improvisationsgabe. Daher gilt nach wie vor:
Der Mensch ist nach wie vor das beweglichste Element in jeder Fertigung.
Menschen im Produktionsprozess können die Prozesse verbessern, Roboter nicht
Die Unternehmer haben erkannt: Wird der Mensch aus dem Produktionsprozess ausgeschaltet, gehen dabei Kreativität und Innovationskraft verloren. Viele Innovationen und Verbesserungen für die Produkt- und Prozessentwicklung kommen aus der Arbeiterschaft. Durch die automatisierte Produktion wird Wissen, das zur Herstellung von Produkten hoher Qualität in den Köpfen und Händen der Menschen vorhanden ist, frei verfügbar. Auf diese Weise wandern Fertigungskenntnisse ab. Langfristig führt die Erledigung der Arbeit durch Roboter zu einem Verlust von Handwerkern und Meistern, die den Produktionsprozess noch verstanden haben. Bei Toyota in Japan hatte die Konzernleitung daher vor einigen Jahren beschlossen, 100 Arbeitsbereiche zu schaffen, in denen Roboter durch Menschen ersetzt werden. Facharbeiter sollen ihr Wissen weitergeben, indem sie selbst die Roboter programmieren.
Schließlich hat folgende Erkenntnis ihre Gültigkeit behalten:
In der Produktion das Know-how der Mitarbeiter einsetzen, ohne auf automatisierte Prozesse zu verzichten.
Versuche in Japan und in letzter Zeit bei Tesla in den USA ergaben, dass mit den menschenleeren Roboterfabriken diese wichtige Quelle der Produkt- und Fertigungsentwicklung versiegte. Es gilt daher:
Nicht so viel Automatisierung wie möglich, sondern so viel wie nötig.
Qualität und Produktivität sind Voraussetzungen für eine erfolgreiche Automatisierung des Fließprinzips. Da die fortschreitende Automatisierung bei Toyota auch zu Qualitätsproblemen geführt hatte, setzt das Unternehmen bei verschiedenen Prozessen wieder auf Handarbeit und fährt die Unterstützung durch Roboter herunter. So wird als Beispiel bei dem Autobauer bei einigen Modellen wieder von Hand geschweißt, weil die Nähte der Roboter zu unsauber waren. Daraus fogt: Die Beherrschung der Prozesse ist Voraussetzung für jede Automatisierung.
Wer seine Prozesse und Daten nicht im Griff hat, sollte erst nachbessern, bevor weitere Prozessautomatisierungen angegangen werden.
Im Produktionsablauf können und werden auch in der Fabrik der Zukunft immer unvorhersehbare Störungen auftreten. Die Behebung dieser Störungen erfordert gerade bei fortschreitender Automatisierung die rasche Einschaltung des Menschen, um Stillstandzeiten der Produktionskette zu vermeiden. Je höher der Automatisierungsgrad, desto empfindlicher wirkt sich ein Maschinenstopp aus, wenn aus Qualitätsgründen der gesamte Prozess unterbrochen werden muss.
Weil nur Menschen Prozesse verbessern können, sollten sie immer im Zentrum des Arbeitsprozesses stehen.
Die Fachleute sind sich einig: Der Mensch wird nach wie vor im Produktionsprozess benötigt. Es muss daher festgelegt werden, welche Funktionen er in der automatisierten Fabrik übernehmen soll und wie groß sein Handlungsspielraum ist. In der deutschen Industrie sind der Facharbeiter und das Ausbildungssystem zum Facharbeiter die weltweit anerkannten Stärken. Diese gilt es zu nutzen. In Zukunft wird es zu einer stärkeren Vernetzung von menschlicher Flexibilität und der Flexibilität, die eine Produktionsanlage hat, kommen. Trotz der relativ hohen Arbeitskosten in Deutschland bleibt die menschliche Arbeit für die Produktion wichtig.
Bodo Eidenmüller, Juni 2019