Größe & Komplexität
Einsicht Nr. 6
17.10.2011

Wachstumssucht und Folgekosten

von Manfred Hoefle

 

 

Die Sucht nach Größe ist für viele kapitalmarktorientierte Unternehmen intrinsisch. Das Ergebnis externen, also zugekauften, Wachstums ist häufig Größe allein; es entstehen keine zusätzlichen Synergien; verloren gehen aber Bindungen und Kulturen, die Diversität der Unternehmenslandschaft nimmt ab. In vielen Fällen wird die Reparatur durch Rückabwicklung notwendig; dies ist zumindest eine vernünftige, willkommene Variante, wie die Beispiele aus den USA zeigen.

Aufspaltung und Abspaltung von Konzernen nehmen zu

Ist es nicht widersinnig, dass der Kapitalmarkt von Unternehmen unablässig hohes Wachstum fordert und, sobald dieses nachlässt, zur Zerschlagung drängt? Eigentlich nicht, wenn man die Entwicklung von Unternehmen kurzfristig am Börsenkurs bewertet sieht. Denn solange der Aktienkurs das Wachstumspotenzial über die Maßen einpreist - man braucht nur an Enron zu denken - will man als „Investor" dabei sein, aber den Wert sogleich abstoßen, sobald das hochgeschraubte Wachstum nachlässt. Und wenn man noch „Shareholder" geblieben oder zusätzlich eingestiegen ist, soll das Ergebnis des wuchernden Wachstums rasch rückgängig gemacht werden, weil die einzelnen Geschäfte von Analysten höher bewertet werden als ihre Summe.
Von Langfristigkeit ist keine Rede, nicht von den Analysten, nicht vom Management, schon gar nicht von den professionellen Mitverdienern, angefangen bei Consultants über Lawyers und Wirtschaftsprüfer bis zu den Investment-Bankern. Dieser Widersinn hat bekanntlich zahlreiche Beispiele, auf die wir in der Folge kursorisch eingehen.

Eine lange Geschichte

IT&T war lange Zeit der Archetyp eines Unternehmens, das sich ganz in den Dienst der Aktionäre gestellt sehen wollte (Originalton: „Transformative strategies that create value for shareowners"). Was ist daraus geworden? Das 1920 von zwei Brokern gegründete Unternehmen wuchs in den 1970er-Jahren unter der Herrschaft des legendären Harold Geneen, eines Accountant und Leveraged Buy-out-Spezialisten, zum größten Konglomerat der freien Welt heran. In nur zehn Jahren schnellte der Umsatz von 765 Millionen auf 17 Milliarden Dollar! Die Akquisitionen von Autozubehör und Backwaren über Kosmetik, Halbleiter, Hotels, Telekom-Gesellschaften bis zu Verlagen und Versicherungen addierten sich auf 350 Unternehmen. Nachlassende Konjunktur, höhere Zinsen und zunehmende Managementprobleme leiteten eine grundverschiedene Ära ein: die über mehr als dreißig Jahre sich hinziehende Zerlegung des Konglomerates.

Es begann im Schwerpunkt mit der Abspaltung des traditionellen Telekom-Geschäftes im Jahre 1986, setzte sich fort mit der Aufteilung in die drei Sektoren Hotels, Versicherungen und Industrie; 1995 wurden die nichtindustriellen Aktivitäten verkauft. Aktuell erfolgt die Aufteilung der Restgesellschaft, der früheren „Industries", in drei selbstständige Gesellschaften: ITT Exelis (Aerospace & Defense), Xylem (Water Technology) und die als ITT firmierende Engineering-Gruppe, die Ende 2011 an der New York Stock Exchange gelistetet werden. Das Ergebnis der Transformation wird als „One History – Three Dynamic Futures" angepriesen. Bis dahin waren vier CEOs beteiligt.

Aus der Distanz von heute stellt sich die Frage: Was wurde über die vielen Jahre mit den „transformative strategies" erreicht. Wer hat profitiert? Waren es die Shareholder/-owner oder das Management? Die kurze Antwort: in erster Linie das Top-Management.

Zwei fatale Trugschlüsse

Eine grobe Analyse vieler Fälle hohen Unternehmenswachstums in Folge von M&A stößt auf eine simple Logik des Kapitalmarktes. Das ist

Erstens: Ungebrochener Glaube an „Growth-Stories" am Kapitalmarkt

Insbesondere in schwachen Konjunkturphasen wird Wachstum vom Kapitalmarkt disproportional positiv bewertet. CEOs von Unternehmen, die sich vom durchschnittlichen Wachstum einer Branche oder eines Landes abheben, erhalten allseits Anerkennung durch Peers und Bewunderung durch einschlägige Medien. Diesen CEOs geht es aber nicht zuletzt um die monetäre Ernte: nämlich eine exzessive Vergütung über die auf Wachstum abgestellte Incentivierung.
Das Vorgehen ist schon vielfach beschrieben: Dem Kapitalmarkt werden Growth Stories präsentiert, die analytisch erhärtet, durchdacht erscheinen und euphorisch stimmen. Als Argument dienen gewöhnlich bisher noch nicht erschlossene Synergien, so die Bedienung von Kunden aus einer Hand oder eine überfällige Konsolidierung und potenzielle Skaleneffekte; gemeint ist die Konzentration der Branche zum eigenen Vorteil. Das allein aber reicht nicht. Entschlossenheit und Kompetenz müssen demonstriert werden, die neue strategische Rationalität frühestmöglich als Wertsteigerung den Aktionären zukommen zu lassen.

Zwei klassische Fälle kurz gefasst:
Der erste ist Jack Welch von GE: Er löste als neuer CEO 1981 mit seinem Versprechen, trotz der damaligen schlechten Konjunktursituation GE auf Wachstumskurs zu bringen, Hochstimmung unter den Analysten aus. Und er erfüllte das Versprechen verdächtig stetig, mit der Folge, dass während seiner 20 Jahre an der Spitze der Börsenwert auf 410 Milliarden Dollar katapultiert wurde.(1) Danach verminderte sich die Kapitalisierung auf die Hälfte und vorübergehend weniger.

Der zweite ist Dennis Kozlowski von Tyco. Dieser selbsterklärte Nachahmer von Welch erwarb in seiner zehnjährigen Ära als CEO die schier unglaubliche Zahl von rund 1000 Unternehmen bzw. Geschäften. Das Muster war einfach und raffiniert zugleich: Noch relativ fragmentierte Branchen wie Feuerlöschgeräte oder Elektromechanische Komponenten sollten unter ein Firmendach gebracht, auf Kosten getrimmt werden; mit der so gewachsenen Angebotsmacht sollten dann höhere Preise durchgedrückt werden; das Ganze extrem mit Fremdkapital gehebelt. Und es sollten Steuern gespart werden: darum wurde das Headquarter in die Bermudas verlegt.(2) Die Geschichte nahm bekanntlich einen unglücklichen Verlauf. Tyco wurden 1999 Bilanzfälschung nachgewiesen, Kozlowski und sein mitgestaltender CFO zu langen Haftstrafen verurteilt. (3)

Nach zahlreichen Verkäufen und der Aufspaltung des Unternehmens in drei Teile (Healthcare, Electronics, Fire & Security) wurde der Kern 2009 in eine Schweizer Aktiengesellschaft mit Firmensitz Schaffhausen eingebracht.

Zweitens: „Wertsteigerung" durch Zerschlagung

„As long as your conglomerate is doing well, you can probably keep it together, but when it doesn't work, it gets broken up" resümierte jüngst Stephan Kaplan von der Booth Business School in Chicago. Sobald also der Wachstumsmotor stottert, wird die Logik von konglomeraten Unternehmen in Zweifel gezogen und der Ruf nach Abspaltung erhoben. In den USA und auch in Europa – im Unterschied zu Asien – wird in der Regel ein sogenannter Conglomerate-Discount(aktuell 8%) angesetzt, mit dem breit diversifizierte Unternehmen an der Börse bewertet werden. „De-conglomerisation" – so die neue Linie –bringe mehr Fokus und eine größere Flexibilität; so lautete jüngst die Begründung des neuen Managements für die Aufteilung des Erdölunternehmens Conoco-Phillips in zwei Teile, nachdem es wenige Jahre zuvor noch akquisitorisch hyperaktiv war.Die einfache Schlussfolgerung aus diesem Muster lautet:
Das Versprechen eines überdurchschnittlichen Shareholder Values (SHV) gilt immer, sowohl für die wachstumsgetriebene Diversifikation als auch für die kostenbegründete Zerschlagung. Manchmal liegt nur eine kurze Zeitspanne zwischen einem 180-Grad-Strategiewechsel. Ein neues Management versichert stets selbstsicher, die Fehler des alten, (das waren: zu wenig Dynamik oder zu viel Diversifikation) umgehend zu korrigieren. Und der Kapitalmarkt wartet ungeduldig auf eine neue Story.

Zwei ernüchternde Beobachtungen

Im folgenden Teil wird ein prüfender Blick auf eine besondere Gruppe von Akteuren geworfen, die hauptsächlich mit Unternehmen handeln, und ihr Vorgehen und ihre Einstellung zu dieser „Ware" kurz beschrieben. Vorweg erwähnt sei, dass die Umsätze auf dem Markt des Handels mit Unternehmen – also mit Fusionen und Übernahmen seit dem Aufkommen des Shareholder-Value-Denkens vor rund dreißig Jahren enorm gewachsen sind. Um eine Größenordnung zu vermitteln: In diesem Jahr bewegt sich das Volumen in den USA voraussichtlich bei über 400 Milliarden Dollar.

Erstens: Hedge-Fonds diktieren dem Management das Zerschlagungsszenario

Im vergangenen Jahrzehnt haben sich immer mehr Fonds als aggressive Firmenaufkäufer und „Unternehmen-Zertrümmerer" betätigt. Die Gründe waren im Allgemeinen: leicht verfügbares günstiges Fremdkapital, hohe Leverage-Möglichkeiten – manchmal bis zum 50-Fachen des Eigenkapitals – und die zeitweise äußerst vorteilhaften Bedingungen für Börseneinführungen (IPOs).

Waren es früher fast nur Einzelpersonen (4), so traten unter der Bezeichnung Private Equity, Buy-out oder Hedgefonds zahlreiche „Spieler" auf, die Unternehmen bzw. Banken zu einer Zerschlagung anhielten oder gar zwangen. Die Argumente dafür waren schlicht eine rasche Verbesserung der Kapitalverzinsung bei den ausgesuchten Unternehmen. Angesichts der vielfach gezeigten Praktiken erscheint der Begriff „Investor" indes fragwürdig; passender ist der Begriff Arbitrageur; damit ist ein Akteur gemeint, der kurzfristig eine Marge abschöpft und den alles weitere nicht interessiert. Das zeigt sich auch daran, dass das Unternehmen an denjenigen verkauft wird, der am meisten bietet; nicht selten sind es andere Spieler aus dem gleichen Lager, dem Secondary Buy-out Market.

Aufmerken ließ 2007 der veröffentlichte Brief eines britischen Hedgefonds mit dem nachgerade karitativ klingenden Namen „The Children Investment Fund" (TCI) (5) an den Board von ABN Amro. Darin verlangte der TCI-Gründer und Präsident Christopher Hohn, dass die damals nach der Bilanzsumme größte Bank der Niederlande beziehungsweise fünfzehngrößte der Welt, sich auftrennen soll, um den Anteilseignern den wahren Wert der Bank zu realisieren. Die Folgen waren dramatisch: Nach dem Verkauf der lukrativen amerikanischen Tochter La Salle an die Bank of America bildete sich ein Konsortium aus Großbanken (Royal Bank of Scotland, Fortis, Santander), die ABN Amro unter sich aufteilten. Der mit Fortis fusionierte Teil ist heute eine mit Milliarden gestützte, verstaatliche Bank geworden, die es wieder an die Börse zieht.

Zweitens: Unternehmen werden zu Handelsobjekten gemacht

So wie Aktien immer mehr zu einem anonymen Eigentumsderivat verkommen sind, das gehandelt, nicht mehr gehalten wird, so wurden Unternehmen zusehends zu Kauf- und Tauschobjekten in den Händen sogenannter Investoren. Diese sehen in der Kontrolle von Unternehmen eine über die am Aktienmarkt hinausgehende lukrative Möglichkeit der Verzinsung. Dazu nehmen sie die Unternehmen „under management", entziehen sie dem Kreis von Aktionären, um sie dann verschlankt, „aufgehübscht" und „geleveraged" wieder dem Kapitalmarkt anzudienen; das ist das überschwänglich als wertschaffend gepriesene Vorgehen. Auf diesem Wege sind die Investoren jedoch nicht alleine; sie sind begleitet von Strategy Consultants, die das „Target" auf Kurs bringen sollen, von einer Vielzahl von Lawyern internationaler Großkanzleien, die alle Schritte „compliant" und „water-tight" machen müssen und von Investmentbankern, die das Financial Structuring und den IPO organisieren. Für diese Gruppe der Mitmacher ist das Geschäftssegment Company Trading das mit den höchsten Margen, an dessen Wachstum sie nicht nur partizipieren wollen, sondern das sie sogar generieren. Kurz: Fees sind alles!

Ignoriert und vernachlässigt bleibt die Tatsache, dass es sich bei Unternehmen um gesellschaftliche Einheiten handelt, die eine eigene Kultur und Identität erworben haben. Die Verunsicherung der Belegschaft wird als unvermeidliches Begleitergebnis in Kauf genommen. Der Einzelne zählt ohnehin nicht, weil er Teil der Verfügungsmasse ist; nur die notwendigen Helfer, der aufgeschlossene Teil des Managements wird über ungewöhnlich hohe Incentives – meist Aktienoptionen – gebunden. Beziehungen zu Kunden und Lieferanten werden nach kurzfristigen Nützlichkeitsüberlegungen gemanagt. Im Zentrum steht allein die Differenz zwischen Kauf- und Verkaufspreis.

Neun aktuelle Beispiele

Die folgenden Beispiele zeigen die auffallende Häufigkeit und die Wechselhaftigkeit des Company Restructuring durch Aufspaltung (im Wesentlichen 2011).

Altria Abspaltung des Tabakgeschäftes (Philip Morris)   
Conoco-Phillips  Aufspaltung in zwei Gesellschaften: Erschließung & Förderung; Raffinerien & Tankstellen
HP Abtrennung des PC-Geschäftes; Verkaufsabsicht
ITT Weitere Aufspaltung in drei börsengelistete Gesellschaften
Kraft  Abtrennung des Lebensmittelgeschäftes in Nordamerika
McGraw-Hill Abspaltung der Schulbuch-Sparte
Motorola Aufspaltung in Mobility und Solutions, Verkauf von Mobility (Handys) an Google
Pfizer Aufspaltung in „innovativen Kern“ und „etablierte Produkte“ 
und Nicht-Pharma (entspricht einer Umsatzreduktion von 40%)
Tyco Nach Aufspaltung 2007 in die Sparten „Electronics“ und „Medical“; weitere in die Sicherheitssparte ADT, die Geschäfte Feuerschutzgeschäft und Durchflussregelung

Diese Fälle sind ausreichend Beweis dafür, dass gerade bei den exzessiv durch Zukäufe gewachsenen Unternehmen sich wirtschaftliche Vernunft - zunächst nur mit Blick auf den Kapitalmarkt - durchzusetzen beginnt. Die Aufspaltung in überschaubare, mit einem klaren Profil versehene Unternehmen ist eine hoffnungsvolle Entwicklung, die noch mehr Nachahmung verdient. Es lässt sich schwer abschätzen, wie hoch die Kosten von Übergröße waren, aber immerhin ahnen, dass diese hoch waren.

Situation und Perspektive in Deutschland

Abgesehen von den weitverzweigten Industrieholdings Stinnes und Flick, die im Wesentlichen unter der Führung der Firmenpatriarchen zusammengekauft worden waren, sind - im Unterschied zu den USA - Industriekonglomerate hierzulande über eine lange Zeitdauer organisch gewachsen; zunächst durch Innovationen und geographische Ausdehnung, später vermehrt durch Erwerb kleinerer bzw. schwächerer Mitbewerber. Erinnert sei an AEG, Siemens, Thyssen.

Einen spektakulären Fall eines Industriekonglomerates gab es: die traditionsreiche Mannesmann AG. Die nach dem Krieg entflochtene Industriegruppe wurde 1955 wieder zusammengeführt. In den 1970er-Jahren wurden die Maschinen- und Anlagenbauer Rexroth, Demag, Krauss-Maffei erworben, im folgenden Jahrzehnt die Automobilzulieferer Kienzle, Fichtel & Sachs, VDO und Boge und noch der große Automatisierungsspezialist Hartmann & Braun (vordem von AEG erworben). Mit dem Erwerb der D2-Mobilnetz-Lizenz zu den damals gewinnträchtigen Bedingungen begann der steile Aufstieg zum nach der Telekom größten Telekommunikationsanbieter. Im Jahre 1999, dem erfolgreichsten der Firmengeschichte, erfolgten die Abspaltung des Industriegeschäfts und die Zusammenfassung in der Mannesmann Atecs; das Anlagengeschäft und das traditionelle Röhrengeschäft wurden verkauft. Anfang 2000 kam es zur bis dato größten (feindlichen) Übernahme durch Vodafone. Die Atecs wurde an Bosch und Siemens verkauft, aufgeteilt und die Geschäfte einzeln eingegliedert und zum Teil wieder weiter veräußert. Die über 110 Jahre Firmengeschichte fand ein abruptes Ende. Die einzelnen Unternehmensteile sind sogar für Insider nur mehr schwer identifizierbar.

Ein zweiter, nunmehr historischer Fall war die AEG.
Dieses Monument deutscher Industrie- und Technikgeschichte - erinnert sei nur an die Erfindung des Farbfernsehverfahrens PAL - ging 1996 nach 113 Jahren unter, indem sie mit der Daimler-Benz AG verschmolzen wurde. Auf der Basis von Patenten von Thomas Alva Edison gegründet, entwickelte sich die Allgemeine Elektro Aktiengesellschaft (AEG) zu einem hochdiversifizierten Unternehmen der Elektrotechnik mit Schwerpunkten in der Energieerzeugung, Anlagen- und Automatisierungstechnik, Nachrichtenübertragung, Unterhaltungselektronik (Telefunken) und Hausgeräte. Am Scheitelpunkt, im Jahr 1970, beschäftigte das Unternehmen 178 Tausend Mitarbeiter und war damit das viertgrößte der Elektrobranche in Europa.

Symptomatisch für die Führung des Konzerns waren verschachtelte, zentralistische Strukturen, eine schwache kaufmännische Leitung, eine zahlreiche Assistentenschaft, der zunehmend häufige Wechsel von Vorständen und Aufsichtsräten. Wachstum wurde vor allem außerhalb der Kerngebiete über überteuerte Zukäufe gesucht; diese waren zu einem erheblichen Teil kreditfinanziert. Insbesondere auf dem Gebiet des stark fragmentierten Hausgerätemarktes wurde eine Reihe überwiegend mittelständischer Unternehmen aufgekauft, die effektiv nicht integriert wurden. Als wichtigster Beweggrund für das Expansionsstreben galt der Ehrgeiz der jeweiligen Konzernspitze, umsatzmäßig zu Siemens aufzuschließen. Der AEG-Historiker Peter Stunk konstatierte: „Der Fehler der AEG war, dass Größe das einzige Ziel war".(6) Es gab aber weitere Fehler und Pannen, insbesondere in dem energisch betriebenen Kernkraftgeschäft.

Zu Beginn der 1980er-Jahre setzte der Abverkauf von Beteiligungen zu schlechten Konditionen ein. Mit der Übernahme durch Daimler-Benz im Jahre 1985 war bei dem damaligen „Konzernschmied" Edgard Reuter die Hoffnung verbunden, einen integrierten Technologiekonzern zu bilden. Die erwarteten Synergie-Effekte stellten sich als illusionär heraus. Das milliardenschwere Investment wurde abgeschrieben. Anzumerken ist, dass die 20 unter der Marke AEG in neuer Eigentümerschaft fortgeführten Aktivitäten fast ausnahmslos profitabel waren.

Eine Bewertung der Fälle Mannesmann und AEG aus der Zeit der Deutschland AG zeigt, dass Publikumsgesellschaften mit einer laxen bzw. einer von Bankeninteressen geleiteten Unternehmensaufsicht sich einem manageristischen Management-Freiraum verschaffen, diversifizierte Konzerne zu „schmieden" - besser zu „basteln". Die Beteiligungen der früheren Kernaktionäre waren zum Zeitpunkt der ungezügelten Expansion gering. Die Banken – im Falle der AEG die Dresdner – hatten eine bestimmende, aber nicht engagierte Rolle. Die Verschiebung der Macht auf das Management mit einem machtvollen Vorstandsvorsitzenden löste ein forciertes, externes Unternehmenswachstum aus. Die Beweggründe waren offensichtlich das mit der Unternehmensgröße verbundene Ansehen und der entsprechende Einfluss, der sich nicht zuletzt in der Vergütung niederschlug. Die Fusionskontrolle hatte bei der gegebenen Marktkonstellation kaum Eingriffsmöglichkeiten. Die paritätische Mitbestimmung wiederum hatte wegen der zentralistischen Strukturen der Industriegewerkschaft - Metall nicht nur keinen hemmenden Einfluss, sondern eine eher befördernde Wirkung.

Fusionen und große Übernahmen von deutschen Unternehmen im In- und Ausland bewegten sich in den letzten 10 Jahren auf einem gemäßigten Niveau. Als ein wichtiger Grund dürfen die dramatischen Probleme bzw. der hohe Korrekturaufwand gelten – Stichworte: DaimlerChrysler, Schaeffler-Continental; bis anhin haben sie als Lehren offenbar gewirkt.

Hinweis:
Siemens wurde bereits in Denkschrift Nr. 5: „TBTF versus das rechte Maß – zum Dilemma übergroßer Unternehmen" behandelt. Besondere Beachtung verdiente der Bankensektor: HypoVereinsbank, Dresdner-Allianz-Commerzbank und Landesbanken.

Die neuen Lehren sind die alten

Die seit den 1970er-Jahren vehement einsetzende Expansion durch Akquisition und die sich abwechselnden Zusammenschlüsse und Aufspaltungen bieten ausreichend Stoff zu einer erneuten kritischen Würdigung.
Folgende vier Lehren lassen sich ziehen:

  1. In reifen Industrien ist, abgesehen von der Internationalisierung, überproportionales Wachstum nur über Diversifikation und eine höhere Branchenkonzentration erreichbar. Angesichts der bereits stark fortgeschrittenen Wettbewerbskonzentration vieler Branchen ist eine Bescheidung mit geringem Wachstum und sogar rückläufigen Umsätzen für viele Unternehmen die einzig realistische Perspektive.
  2. Die meisten M&A-Aktivitäten sind nachweislich wirtschaftlich nicht erfolgreich. Der Anteil der Flops liegt übereinstimmend bei rund 70%. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass ab einer bestimmten Größe zugekaufte Größe überproportional Komplexität nach sich zieht. Das hat zur Folge, dass die Beschäftigung mit der inneren Verfassung von Unternehmen – so die Angleichung von Systemen und Prozessen – unverhältnismäßigen Aufwand verursacht und mit einem Verlust an Flexibilität einhergeht. Ein anderer Grund sind unverträgliche Unternehmenskulturen.
  3. Die M&A-Aktivitäten liefen in Schüben ab, die maßgeblich vom Vorhandensein billigen Geldes und einer bestimmten Managementlehre „getriggert" waren. Häufig war ein Nachahmer-Verhalten festzustellen. In der Kombination von Managementtheorien und Management-Gurus wurden folgende Konzepte anleitend: Scale-/Erfahrungskurveneffekte (Boston Consulting Group), Scope (Panzar/Willig, Stratergy Consultants), „Triade" (Ohmae/McKinsey), Kernkompetenzen (Prahalad/Hamel) und Dominanzstrategien (Porter/Strategy Consultants).
  4. Die Sucht nach Größe und ihre „Heilung" bedeutet in der Regel einen Verlust an „Intangible Assets" (das sind Identität, Unternehmenskultur) und ist in vielen Fällen unter Wettbewerbsgesichtspunkten bzw. volkswirtschaftlich nicht wünschenswert.

Generell lässt sich feststellen, dass eine Fixierung auf den Kapitalmarkt zu unorganischen, kostspieligen Strategien und außengeleiteten Handlungsweisen führt. Die später ob der enttäuschten Erwartungen vom Kapitalmarkt erzwungene Korrektur lässt eine verantwortungsvolle Unternehmensführung nicht zu; sie erlaubt nur kurzfristiges, opportunistisches Handeln. Unternehmen sind aber mehr als nur „Assets" und „Capital value". Es ist an der Zeit, im Interesse von Marktwirtschaft und Gesellschaft unorganisches bzw. externes Wachstum zu begrenzen und die Stakeholder, das sind Kunden, Mitarbeiter, Lieferanten und Gemeinschaft, die auch „Enabler" sind, angemessen zu berücksichtigen.

Was ist mit Blick auf die Zukunft hilfreich?

Sicher keine neuen Theorien von Synergien und Konzentration. Vonnöten sind die Kenntnis von Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte, die Würdigung von Erfahrung, die Einsicht in die offensichtlich notwendige Beschränkung von Wachstum. Die Einhaltung des rechten Maßes und das Streben nach Exzellenz und Innovation müssen Maximen der Unternehmensführung bleiben – heute und zukünftig.

Manfred Hoefle

 

Quellen/Literatur

The Economist (The Fall of Big Business) April 17, 1993; (ITT's Latest Break-up) July 19, 1995, (Starbustin) March 26th, 2011, (Should BP split?) July 30th, 2011, FAZ (Amerikanische Unternehmen spalten sich auf) 17. Sept. 2011
Wikipedia und Webpages der erwähnten Unternehmen (Corporate Media)
Adams, Walter; Brock, James, W.; The Bigness Complex, Industry, Labor, and Government in the American Economy, 2nd. Ed., Stanford University Press, Stanford, 2004
Hoefle, Manfred: Managerismus, Wiley, Weinheim, 2010
Hoefle, Manfred: TBTF versus das rechte Maß – zum Dilemma übergroßer Unternehmen (Denkschrift), Juli 2011. - herunterladbar unter Denkschrift Nr. 5 ); dort weitere Literaturangaben
Kuttner, Robert; Everything for Sale, Alfred A. Knopf, New York, 1997
Scherer, F.M.; Ross, David; Industrial Market Structure and Economic Performance, 3rd.ed. Houghton Mifflin, Boston, 1990

 

 

Anmerkungen

(1) Eine Bewertung dieser Vorgehensweise und deren Ergebnisse sind im Buch „Managerismus" und unter www.managerismus.com nachzulesen.

(2) Von dort wurden per Telefonkonferenz zum Teil im Fünfminutentakt Manager neu akquirierter Unternehmen auf ihre Eignung für Tyco interviewt und sofort mit der Entscheidung über ihren Verbleib konfrontiert.

(3) Man vergegenwärtige sich die früheren hehren Statements von Tyco: „What we seek to achieve: Adhere to the highest standards of corporate governance by establishing processes and practices that promote and ensure integrity, compliance and accountability".

(4) In den1990er-Jahren taten sich einzelne „Shark-Investors" hervor, allen voran Carl Icahn, der eine Serie von Share-Deals meist mit dem Ziel der Wertsteigerung durch Zerschlagung bzw. Abspaltung einging und damit zu den reichsten Amerikanern aufrückte. Bekannt geworden sind die Fälle: Nabisco, TWA, Texaco, Phillips Petrol, Western Union, Gulf & Western, Viacom, Uniroyal, American Can, USX, Revlon, Blockbuster, Time Warner und zuletzt Motorola.

(5) Dieser Fonds rühmt sich tatsächlich, zwischen 0,5 % - 1 % des Anlagevolumens an dem Gemeinwohl dienende Aktivitäten zu spenden. An ihrem Management ist Christopher Hohns Frau beteiligt. Die jährliche Benefiz-Veranstaltung ist in London ein großer Society-Event. Sitz der Muttergesellschaft sind die Cayman Islands.

(6) Siemens dagegen zeichnete sich aus durch eine konservative Finanzierung, ein umfassendes Controlling (mit dem „Vier-Augen-Prinzip"), hohe Kontinuität in der Führung, die enge Bindung an die Gründerfamilie und relativ dezentrale Strukturen.