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Arbeitswelt
Denkzettel Nr. 68
17.03.2021

New Work, Purpose und Selbstbestimmung

von Sandra Siebenhüter

 

 

Was ist dran an der neuen Wertschätzung für die Mitarbeiter?

Eine Sorge geht um in Europa: trotz Milliardeninvestitionen in neue Techniken nahm nach Angaben der EZB(1) die Arbeitsproduktivität in den vergangenen 20 Jahren (vor Corona) jährlich nur um 0,6 Prozent zu. Dieses sog. „Produktivitäts-Paradoxon“ lässt viele Wirtschaftswissenschaftler rätseln: Warum brachte die Digitalisierung keinen nachhaltigen Produktivitätsschub? Verschiedene Erklärungen werden dazu angeführt(2), doch grundsätzlich ist zu konstatieren, dass die technischen Prozesse wohl weitgehend durchrationalisiert sind. Was nun?

Purpose statt Parkplatz

Da offensichtlich auf der technischen Ebene nur noch wenig Effizienzgewinne zu holen sind, gilt es - wen wundert es - die soziale Ebene, also die Zusammenarbeit der Menschen, zu optimieren. Neudeutsch: Das Empowerment zu stärken.

Im Focus steht dabei die Generation Y (geboren in den 80er/90er Jahren), denn sie(3) lassen sich durch die bewährten Incentives „Dienstwagen, Firmenparkplatz, Eckbüro“ kaum noch motivieren. Unternehmen müssen umdenken, und zwei Fragen beantworten: Wofür lassen sich diese Mitarbeiter und wie motivieren?

Purpose(4) statt Profit, scheint der neue Herzschlag des Kapitalismus zu sein. Die Sinnfrage „Wofür arbeite ich?“ rückt in den Mittelpunkt und scheint überraschenderweise diskutierbar: Covestro („To make the world a brighter place“), SAP („To help the world run better and improve people‘s lives“), Volkswagen („To make this world a mobile, sustainable place with access to all the citizens”) oder Siemens („We make real what matters“) wollen nun die Welt besser machen oder sogar „der Gesellschaft dienen“ (Joe Kaeser(5).

Eine zweite Frage lautet: „Wie arbeiten wir zusammen?“ Flache Hierarchien statt straffer Führung, Coaching statt Kommando, Selbstorganisation und Selbstverwirklichung sind die Versprechen der HR-Abteilungen; Agiles Arbeiten, New Work die Programmatik für eine effizientere und damit produktivere Zusammenarbeit der Beschäftigten.

Verfremdung von New Work und Agile Arbeit

Dabei lohnt sich ein Blick auf die Grundgedanken von New Work und Agilem Arbeiten. Denn sie sind nicht banal, sehr differenziert, egalitär und von einer Vision getragen, welche die Arbeitswelt tatsächlich sinnstiftender für die Menschen machen soll.

New Work, entwickelt vom Frithjof Bergmann(6) in den 1970er Jahren, ist der Inbegriff einer neuen Arbeitsweise. Sie umfasst einen echten Freiheitsbegriff, eine neue Sicht auf Arbeitsstrukturen, menschenwürdigeres Arbeiten durch mehr Selbstbestimmung, mehr Raum für Kreativität und Selbstorganisation bei gleichzeitiger Teilhabe an der Gemeinschaft. Selbstbestimmtes Handeln ist die bewusste und gewollte Abkehr von alten tayloristischen Arbeitsmethoden mit festen Hierarchien und einem Zeit- und Ortsregime, welches die Menschen zu „Rädchen“ im System degradierte. Nur indem dieses aufgebrochen wird, ist sowohl nachhaltige wie auch menschenwürdige Arbeit möglich. Dazu passend die Bergmann’schen Schlüsselbegriffe: Mensch, Freiheit, Sinn, Arbeit, Selbstverwirklichung. Sein Anspruch ist: Nicht der Mensch soll der Arbeit dienen, sondern die Arbeit sollte dem Menschen dienen. Sie soll ihm Kraft und Energie verleihen und ihn in seiner Entwicklung unterstützen, ein lebendigerer und vollständigerer Mensch zu werden.

„Agiles Arbeiten“, das sich Anfang des Jahrtausends rasch verbreitete, ist ein zutiefst werteorientiertes und auf vertrauensvolle Teamarbeit basierendes Konzept, das dem Mitarbeiter, dem Kunden und damit auch der Wettbewerbsfähigkeit des Firma Rechnung trägt. Das „Agile Manifest“(7) ist dabei weniger eine Methode, denn eine Haltung, bei der das Team autonom, flexibel und selbstorganisiert - in ständiger Absprache mit dem Kunden - sich kurzzyklische und überschaubare Planungs- und Umsetzungsschritte vornimmt. Entwickelte Vorablösungen ("prototyping") werden in iterativen Prozessen an die Anforderungen des Kunden und sich verändernder Rahmenbedingungen angepasst. Eine schnelle Reaktionsfähigkeit auf mögliche Fehler wie auch an die Bedürfnisse der Teammitglieder werden möglich.(8)

Die Zweck-Mittel Umkehr

Doch so anspruchsvoll die Konzepte im Hinblick auf das Verhältnis Arbeit und Mensch sind, so nüchtern ist zu konstatieren: Beide Konzepte werden im Sinne eines manageristischen Führungsstils vielfach instrumentalisiert und missbraucht. Sie werden ohne ausreichende Vorbereitung ganzen Teams übergestülpt und dabei nur noch jene Bruchstücke verwendet, die möglichst hohe Effizienz versprechen.
Es findet eine funktionale Umdeutung der Ursprungsidee, eine Umkehr von Zweck und Mittel statt:

Originalidee von New Work

Zweck: Der Mensch kann sich als freies Individuum mit seinen Stärken verwirklichen

Mittel: Sinnstiftende Arbeit durch autonomes Handeln, demokratische Abstimmungsprozesse und kreative Arbeitsumgebung

Umdeutung

Zweck: Erledigung einer vorgegebenen Aufgabe mit festem Zeit/ Kostenrahmen in einer vielfach starren Umgebung

Mittel: Der Mensch soll durch den Purpose einen höheren Sinn in seiner Arbeit erkennen (z.B. lebenswerte Umwelt) und mit den Arbeitsmethoden „Agil, New Work“ motiviert werden, sich ganz in den Dienst der Arbeitsaufgabe zu stellen.

Gelingt die Umdeutung, ist dies ein echter kurzfristiger Wettbewerbsvorteil, nachdem die Technik alleine kaum noch Effizienzgewinne bringt. Das Anzapfen aller intellektuellen, emotionalen und sozialen Ressourcen der Mitarbeiter sind die zentralen Puzzlestücke für höhere Produktivitätsgewinne.

Da stimmt doch was nicht

In den vergangenen Jahren haben agile Konzepte in nahezu allen namhaften Unternehmen(9) Einzug gehalten und bisweilen auch mit Erfolg.

Doch in vielen Unternehmen(10) werden Bruchstücke des Konzeptes ohne große Vorbereitung in bestehende Strukturen eingekippt und man erhofft sich „kleine Wunder“. Im Grunde sind es Echtzeit-Experimente auf dem Rücken der Mitarbeiter: Da findet sich „ein bisschen agiles Arbeiten in einem Projekt“, parallel zu anderen Projekten in der Linienorganisation. Den vermeintlich autonomen Teams fehlt der Zugriff auf notwendige Ressourcen, v. a. Zeit, Personal mit spezifischer Kompetenz. Die Fehlerkultur im Team bleibt die alte. Die Selbstbestimmung des Einzelnen ist minimal. Unausgereifte Rollenklärung führt dazu, dass die Teammitglieder nicht wissen, was sie sollen, können und müssen. Der Product Owner hat keine genaue Vorstellung von seinem Produkt und der Scrum Master wird zwischen den Bedürfnissen der Teammitglieder und den unklaren Erwartungen des Product Owner aufgerieben. Vielfach bleiben Führungskultur, Aufgabenbeschreibung, zentrale Personalplanung sowie langfristige zentrale Planung und die damit verbundenen Genehmigungszyklen gleich. Die Abläufe werden bei gleichzeitig steigendem Druck dadurch kaum flexibler. Folge sind Konflikte im Team, Überlastung der Teammitglieder und mehr Chaos als vorher.

Unbehagen macht sich breit: Den blumigen Worten Selbstverwirklichung, Freiheit, vertrauensvolle Zusammenarbeit folgen keine Taten, die vielfach attraktive Infrastruktur (designte Bürolandschaften, Kickertische, Hängematten) ist nur die Vorderbühne für einen immensen Zeit- und Erfolgsdruck auf der Hinterbühne.

Soziale Praktiken bedürfen der Standards und der Übung

Damit die Potentiale dieser Konzepte nicht zum Bumerang für die Beschäftigten werden, braucht es Dreierlei:

  1. Rückbesinnung auf die Ursprungsidee von New Work und Agiler Arbeit. Durch einen Freiraum für individuelle Potenzialentfaltung und die Erfüllung menschlicher Grundbedürfnisse (Anerkennung, Zugehörigkeit, Kontrolle), stellt sich intrinsische Motivation von selbst ein.
  2. Eine Einhegung der manageristischen Umsetzung dieser Konzepte durch Betriebsvereinbarungen(11): Neue soziale Praktiken bedürfen vor dem Start einer engen Abstimmung und einer klaren Rollen- und Aufgabenklärung. Alle Teammitglieder und Vorgesetzte müssen vor Beginn geschult werden, um ein gemeinsames Verständnis von agiler Arbeit zu entwickeln. Empfehlenswert ist die Einführung eines sog. Sounding Boards (gewählte Vertreter aus der Gruppe), welches klar kommuniziert, was die Teammitglieder brauchen, um gut zu arbeiten und welche Belastungen und Konflikte (zwischen den Teammitgliedern, gegenüber dem Vorgesetzten) auszuräumen sind.
  3.  Eine ehrliche Bestandsaufnahme über die Bereitschaft zu neuen Methoden im Team. Denn weniger hierarchisches Arbeiten bedeutet ein Mehr an Kommunikation im Team und von Selbstorganisation. Dies kann nicht jeder und mag auch nicht jeder. Hierarchien haben nämlich auch eine Entlastungsfunktion.

Corona macht Druck

War die Einführung und Begleitung neuer Arbeitsmethoden im Sinne „guter Arbeit“ schon vor der Pandemie und damit in wirtschaftlich guten Zeiten schwierig und konfliktreich, so stellt sich die Frage: Wie geht’s nun weiter? Die kommenden Monate werden für fast alle Unternehmen sehr schwierig, die Gewinne schmelzen, der Arbeitsplatzabbau hat bereits begonnen. Die Chance, auf einen Re-Start, ist zu hoffen, das Gegenteil jedoch zu befürchten: Eine „noch schnellere, billigere und flexiblere Strategie“ nimmt bereits Fahrt auf, reflexhaft beginnt man zu zentralisieren, autoritär zu handeln und nur noch auf die Kosten zu schauen. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass heute noch liquide Firmen mehr in digitale Prozesse investieren, in der Hoffnung auf steigende Effizienz und Produktivität. Dabei sollten sie das „Produktivitäts-Paradoxon“ eigentlich kennen und dem einfachen Rat folgen: Beim Menschen anfangen, nicht bei der Technik.

 

ANMERKUNGEN

(1)Vgl. : European Central Bank (2020), Statistical Data Warehouse: Labour productivity (https://sdw.ecb.europa.eu/quickview.do?SERIES_KEY=320.MNA.Q.Y.I8.W0.S1.S1._Z.LPR_PS._Z._T._Z.EUR.LR.GY ) und „Angesichts der allgegenwärtigen technologischen Neuerungen erscheint die schwache Produktivitätsentwicklung paradox.“, so der Sachverständigenrat der Deutschen Wirtschaft in seinem Herbstgutachten 2019. https://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/fileadmin/dateiablage/gutachten/jg201920/2019_Nationaler_Produktivitaetsbericht.pdf (S. 3)
(2) Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft (2020): Schlaglichter Oktober (https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Downloads/Monatsbericht/Monatsbericht-Themen/2020/2020-10-produktivitaet-kommt-nun-der-grosse-schub.pdf?__blob=publicationFile&v=6)
(3) Vgl. Zukunftsinstitut (2013): Generation Y. Das Selbstverständnis der Manager von morgen (https://www.zukunftsinstitut.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/Auftragsstudien/studie_generation_y_signium.pdf)
(4) https://www.handelsblatt.com/unternehmen/management/unternehmenskultur-die-frage-nach-dem-warum-was-unserer-arbeit-bedeutung-verleiht/24225480.html?ticket=ST-19442590-loFE5BeO5foWfU0isgZ9-ap3
(5) https://www.welt.de/regionales/bayern/article200432406/Siemens-Chef-Kaeser-Unternehmen-sollen-Gesellschaft-dienen.html
(6) Vgl. Interview mit FB: https://t3n.de/magazin/new-work-urvater-frithjof-bergmann-alte-mann-mehr-247621/
(7) Die vier Prinzipien sind: Individuen und Interaktionen haben einen höheren Stellenwert als Prozesse und Werkzeuge - Funktionierende Software hat einen höheren Stellenwert als umfassende Dokumentation - Zusammenarbeit mit dem Kunden eine höhere als Vertragsverhandlung und Reagieren auf Veränderung ist wichtiger als das Befolgen eines Plans, vgl. https://agilemanifesto.org/iso/de/manifesto.html.
(8) Ausführlich: https://www.boeckler.de/pdf/p_fofoe_WP_023_2016.pdf, S. 8-12.
(9) Auch in vielen DAX Konzernen: https://www.manager-magazin.de/harvard/innovation/agilitaet-in-unternehmen-wie-sie-agile-arbeitsweisen-ausweiten-a-00000000-0002-0001-0000-000161308118
(10) Eine ernüchternde Studie: https://www.haufe.de/personal/hr-management/studie-unternehmen-arbeiten-agil-sind-es-aber-nicht_80_501490.html
(11)Vgl. dazu: https://www.imu-boeckler.de/de/betriebsvereinbarungen-15454-23131.htm