Die Bedeutung der Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) als Wirtschaftsfaktor und Innovationstreiber wächst weiter. In vielen Märkten werden künftig weit mehr als 50 Prozent aller neuen Produkte wesentlich durch den Einsatz von IKT entstehen. Mit Recht wird beklagt, dass Deutschland derzeit IKT-Importeur geworden ist. Im Vergleich mit 15 im IKT-Bereich führenden Ländern liegt Deutschland nur im Mittelfeld. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass Siemens, der Pionier der Nachrichtentechnik, aus der IKT ausgestiegen ist. Im Land von Konrad Zuse wurde diese Entwicklung von der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen.
Der Niedergang der IKT-Sparten von Siemens ist im Ganzen gesehen auf die unzureichende Wahrnehmung und die mangelnde Beherrschung des Technologiewandels von analog zu digital, insbesondere die Auswirkungen des IP-Protokolls zurückzuführen. Es gelang zudem nicht, den Übergang von zentralen auf dezentrale Anwenderstrukturen und von regulierten auf deregulierte Märkte rechtzeitig und umfassend zu gestalten.
Hohe Agilität und große Innovationsbereitschaft waren gefragt, neues Denken und neue Unternehmen notwendig. Langwierige Gremienentscheidungen, komplizierte Strukturen, unkoordiniertes Vorgehen und die Ausrichtung auf etablierte Unternehmen die Regel. Das zeigt ein exemplarischer Streifzug durch die IKT-Sparten von Siemens, die einen wesentlichen Teil der deutschen IKT-Branche ausmachten; sie konnten allesamt nicht im globalen Wettbewerb bestehen.
Wichtig und dringlich für Deutschland und Europa ist, daraus die richtigen Lehren zu ziehen.
Über den Anfang, den Aufstieg und die anhaltenden Erfolge der IKT von Siemens sind die Archive voll, über den Niedergang gibt es nur beiläufige Beiträge der Medien. Die Autoren wollen einen Anfang machen mit der Beschreibung des Niederganges und seiner Analyse, um Lehren auch für andere Branchen zu ziehen, die in naher Zukunft von Strukturbrüchen betroffen sein können.
Die schwierige Situation der IKT in Deutschland
Deutschland nimmt im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnik (IKT), einer der wichtigsten Schlüsseltechnologien, im weltweiten Vergleich der Industrieländer nur mehr eine mittlere Position ein. Nach dem Ausstieg von Siemens verbleiben nur wenige deutsche Unternehmen, die Deutsche Telekom und SAP, die als Global Player bezeichnet werden können. Auf vielen klassischen Feldern von Hardware und Software werden deutsche Firmen und Forschungsgruppen häufig von Wettbewerbern aus den USA, aber auch zunehmend aus Asien abgehängt.
Genügt ein Platz im Mittelfeld?
In der „Internationalen Delphi-Studie 2030" von 2009 hat über die Hälfte der befragten deutschen Experten auf die Frage, wann Deutschland die Software-Kompetenz der USA wettmachen kann, mit „wahrscheinlich nie" geantwortet. Gerade ein Land, das bei der ökologischen Neugestaltung von Industrie, Verkehrs- und Energiesystemen zu den Vorreitern und Nutznießern zählen will, darf aber nicht Nachzügler sein bei einer Schlüsseltechnologie, ohne die dieser Umbau undenkbar ist.
Der Vorschlag, dass Deutschland auf Fokussierung und Spezialisierung setzen soll, auf Nischenökonomie oder bloße IT-Anwendungen, führt definitiv in die falsche Richtung. Für kleinere Länder kann es durchaus realistisch sein, sich auf eine Anwender-Rolle in vereinzelten Disziplinen und Nischen zu beschränken; für ein Industrieland wie Deutschland ist das nicht realistisch.
Der schleichende Ausstieg von Siemens aus der IKT
In seiner über 160-jährigen Geschichte hat Siemens allein in den vergangenen vier Jahrzehnten drei große Organisationsänderungen erlebt. Im Jahr 1966 wurden die Stammgesellschaften Siemens & Halske AG (Nachrichtentechnik), Siemens-Schuckertwerke AG (Starkstromtechnik) und Siemens-Reinigerwerke AG (Medizintechnik) zusammengeführt und die Siemens AG geschaffen. 1989 erfolgte die Divisionalisierung des Unternehmens. Die sogenannten Schwachstrombereiche des Konzerns wurden in den folgenden Jahren sukzessive auf-/abgegeben. Nach Portfolio-Bereinigungen und der Ausgliederung der Nachrichtentechnik wurde das Unternehmen 2007/08 erneut umgebaut. Es besteht nunmehr aus den Sektoren Industrie, Energie und Medizintechnik. Siemens präsentiert sich heute mit dem weltweit größten Portfolio an „grünen" Infrastrukturlösungen für Industrie, Energie und Gesundheit.
Als Siemens 2007 die Netzwerksparte seiner Nachrichtentechnik in ein Joint Venture mit Nokia einbrachte, fand dieser Schritt in der Öffentlichkeit hinsichtlich seiner Auswirkungen für den Wirtschaftsstandort Deutschland kaum Beachtung. Spätestens nach Aufgabe der Telefonsparte, der Computer- und der Halbleitertechnik hätte diese Entscheidung ernste Fragen zur Zukunftsfähigkeit Deutschlands aufwerfen müssen. Der Pionier der Nachrichtentechnik hatte sich von seiner einstigen Stärke sukzessive verabschiedet. Mit ihm verschwand ein großer Teil dieser Hightech-Sparte mit zehntausenden Arbeitsplätzen aus Deutschland.
Gründe für den Niedergang der IKT-Sparten von Siemens
Als Werner von Siemens 1847 den Zeigertelegrafen erfand, legte er damit den Grundstein für ein Weltunternehmen, machte aus einem Hinterhof-Betrieb eine Wiege des technischen Fortschritts. Die Grundlagenforschung in der Nachrichtentechnik in Verbindung mit der Integration der wissenschaftlichen Erkenntnisse der Universitäten und Hochschulen in das Unternehmen führten zum Aufstieg der Firma Siemens & Halske. Im Zentrum stand für die Siemens-Entwickler die Übermittlung von Sprache in höchster Qualität. 1965 stellte das Unternehmen zum Beispiel die erste in Europa serienmäßig gefertigte integrierte Schaltung vor. 1980 ging die erste digitale Telefonvermittlung in Betrieb, 1997 zeigte der Konzern das erste GSM-Handy mit Farbdisplay. Technik hat Siemens zu einem Unternehmen mit Weltruf gemacht. Das Unternehmen wurde deshalb gehört, wenn es um internationale Standards ging.
Am Ende des vergangenen Jahrhunderts erkannten immer mehr nachrichtentechnische Unternehmen in den global gewordenen Märkten die Grenzen ihrer Möglichkeiten und mussten sich zu Kooperationen mit anderen Unternehmen mit ergänzenden Leistungsangeboten und in anderen Regionen bereitfinden. Die Fusion von Alcatel (Frankreich) und Lucent (USA) im April 2005 ließ einen neuen Marktführer für Telekom-Ausrüster entstehen – und Siemens geriet in Rückstand. Mit dem Eintritt von China in die Weltwirtschaft traten neue, staatlich koordinierte Monopolunternehmen (Huawei, China Mobile, ZTE) als aggressive Wettbewerber auf. Im Gefolge der Liberalisierung des Telekommunikationsmarktes in Deutschland in den 90er Jahren sowie des weltweit harten Wettbewerbs um Ausrüstungen für Telekommunikationsunternehmen beendete Siemens, nachdem die Mobiltelefone bereits 2005 aufgegeben worden waren, 2007 sein Engagement auf dem Gebiet der Kommunikationstechnik, das einmal 60 Tausend Beschäftigte zählte.
Fragt man nach den Gründen, die zum Niedergang der Siemens-Nachrichtentechnik führten, so ist auf folgende Punkte hinzuweisen:
- Fixierung auf die Technik
- verspätete und falsche technologische Festlegungen
- unflexible Organisationsstrukturen.
- interne „Planwirtschaft", komplexe Steuerung
- Status eines Monopolisten bei staatlichen Großkunden,
- Überheblichkeit und wiederholtes Nichtwahrnehmen von Marktentwicklungen bzw. des Anwenderverhaltens
- fehlende geschäftliche Kompetenz vieler IKT-Manager
- unzureichende Kontrolle der Aufsichtsorgane
- besitzstandswahrende Gewerkschaften
Besonders die zentralistische Organisations- und Führungsstruktur sowie das entsprechende Verhalten an der Spitze standen einer kreativen Herangehensweise im Wege, ohne die ein erfolgreiches Hightech-Unternehmen sich nicht entfalten kann. Die Organisationsstruktur ähnelte der des Militärs und ging zurück auf die Gründerjahre der Industrieunternehmen, als große Belegschaften angeleitet und kontrolliert werden mussten. Planwirtschaft und ein autoritärer Führungsstil bestimmten die Strukturen bis in die 60er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Die Zusammenführung der drei Stammgesellschaften zur Siemens AG brachte nicht die angestrebten Vorteile; sie erschwerte eher die Führung des nun bedeutend größeren Unternehmens. Der über Jahre gewachsene Stolz der Schwachstromsparte als größter Ergebnisbringer der Siemens AG war einer notwendigen Offenheit für Veränderungen abträglich.
Nicht frühzeitig wahr- und ernstgenommen wurden grundlegende Umbrüche in der Technik. Das war der Übergang von der Elektromechanik zur Elektronik. In der Kommunikationstechnik kam es, angefangen in den 1980er-Jahren in Schüben zum Wechsel in drei Dimensionen:
- in der Technik von analog zu digital
- in der Anwendung von zentral zu dezentral
- im Markt von reguliert zu dereguliert
Das Management der Nachrichtensparte hatte sich nicht rechtzeitig auf den fundamentalen Wandel im Markt und in der Technik eingestellt. Praktiziert wurden immerhin einige Personaltransfers aus dem agileren und kundennahen Teil der ehemaligen Siemens-Schuckert-Bereiche. Diese Besetzungen dienten mehr der Integration der Siemens AG als einer unternehmerischen Vorwärtsstrategie, hauptsächlich weil diese Manager nicht hinlänglich das Geschäft verstanden. Erheblich kürzer gewordene Produktzyklen ließen die bei Siemens lange Zeit praktizierte Vorgehensweise „start second and finish first" nicht mehr zu. Die Schwachstromsparte von Siemens tat sich auch mit der beibehaltenen Struktur und Denkweise als Investitionsgüteranbieter schwer, sich den Veränderungen seiner Produkte, die zunehmend Konsumgüter wurden, anzupassen. Als ein Beispiel sei auf die Entwicklung vom Großrechner zum PC hingewiesen. Von kardinaler Bedeutung war die Unterschätzung des Internet und seiner vielfältigen dezentralen Anwendungen.
Defizite beim Führungsverhalten, im Markt- und Kundenverständnis
Siemens – von einem Erfinder-Ingenieur gegründet und mit wenigen Ausnahmen bis 1992 immer von Ingenieuren geführt – ist primär ein technisch geprägtes Unternehmen. Man unterstellte lange Zeit und fühlte sich darin auch bestätigt, dass Breite und Tiefe seiner technischen Leistungen für den wirtschaftlichen Erfolg ausreichten. In diesem Sinne wurden die Führungskräfte „erzogen". Nahezu alle technischen Vorstandsmitglieder von Siemens & Halske bzw. der Kommunikationstechnik stammten aus dem Zentrallabor für Nachrichtentechnik, in dem sie oft Jahrzehnte tätig gewesen waren. Ihnen fehlte die Markterfahrung aus dem Vertrieb.
Erstklassige Produkte und Systeme waren eine zwar notwendige, aber nicht mehr hinreichende Voraussetzung für den nachhaltigen Erfolg und den dauerhaften Bestand des Unternehmens. Funktion und Qualität der Produkte allein garantierten keineswegs mehr den geschäftlichen Erfolg. Der „Markt" war neben die „Technik" getreten.
Siemens tätigte über Jahrzehnte den quantitativ und nicht zuletzt lukrativ entscheidenden Teil seines Geschäftes in der Nachrichtentechnik mit einigen wenigen Behörden. Die Stellung von Siemens auf dem Gebiet der Fernmelde- (Nachrichten-) Technik als „Hoflieferant" der Post blieb bis zur Liberalisierung des Telekommunikationsmarktes in den 1990er-Jahren weitgehend erhalten.
Führungskräfte im Nachrichten-Bereich von Siemens wurden viele Jahre als „Oberbeamte" bezeichnet. Deren Vertriebspartner waren wiederum „Beamte", die hohe Ansprüche an die Technik und die Leistungsfähigkeit ihrer Lieferanten stellten. Das Gespür, „auf dem freien Markt" Geschäfte zu tätigen, war unterentwickelt. Bei Konsumgütern, bei denen das Unternehmen dem harten Wettbewerb ausgesetzt war, scheiterte es oder musste Kooperationen eingehen. Beispiele waren: Hausgeräte, Rundfunk- und Fernsehgeräte, Computer, Bauelemente und Mobiltelefone.
Der Niedergang einzelner Sparten der IKT
Im folgenden Abschnitt wird der Niedergang der wichtigsten Sparten kurz dargestellt. Es ist ein Abriss eines Rückzugs auf Raten, mal in großen Schüben und mal in vielen kleinen Operationen über einen Zeitraum im Wesentlichen von rund 20 Jahren.
1. Elektronische Datenverarbeitung – Zuflucht zu Kooperationen
Der Strukturwandel brachte den Übergang vom Verkäufermarkt zum Käufermarkt, die dramatische Erhöhung der Anteile der Mikroelektronik und der Software an der Wertschöpfung bei den Produkten sowie eine drastische Verkürzung der Innovationszyklen.
Siemens war bestrebt, auf allen wichtigen und zukunftsträchtigen Teilgebieten der Elektrotechnik aktiv zu bleiben oder aktiv zu werden. Mikroelektronik und Datenverarbeitung wurden als Schlüsseltechnologien angesehen. Siemens & Halske engagierte sich daher Mitte der 1950er-Jahre auf dem Gebiet der elektronischen Datenverarbeitung. Obwohl es nur mit großer Kraftanstrengung und hohen Anfangsverlusten gelang, Marktanteile zu gewinnen und sich gegen internationale Konkurrenz, allen voran IBM, zu behaupten, wurde das Engagement auf diesem zukunftsträchtigen Gebiet grundsätzlich nicht in Frage gestellt. „Gerade dieses Gebiet wird als Inbegriff nützlicher Anwendung der Elektronik oder als Türöffner, als unentbehrliches Hilfsmittel für die Automatisierung komplizierter Systeme und Anlagen angesehen", äußerte der Vorstandsvorsitzende Bernhard Plettner 1973.
Das Unternehmen war zuvor eine Kooperation mit dem amerikanischen Unternehmen RCA eingegangen. RCA stellte allerdings 1971 seine Aktivitäten auf dem Gebiet der kommerziellen Datenverarbeitung ein. Danach schloss sich Siemens mit der Compagnie Internationale Pour l´Informatique (CII) und Philips zur UNIDATA zusammen: diese Verbindung hielt nur bis 1975.
Überzeugt, „die Datenverarbeitungstechnik in Hardware und Software kosten- und marktgerecht zu beherrschen", entschloss sich der Vorstand zur Weiterführung des Computergeschäfts in dem neu strukturierten Unternehmensbereich "Daten- und Informationssysteme". Um die eigene Markt- und Wettbewerbssituation zu verbessern, ging Siemens 1978 eine Kooperation mit der japanischen Firma Fujitsu ein. Die Erfolge bei der Miniaturisierung der Bauelemente führten dazu, dass Computer immer kleiner und billiger wurden. Sie standen nicht mehr im Rechenzentrum, sondern auf dem Büroschreibtisch.
Der Verschmelzung von Daten- und Nachrichtentechnik trug Siemens organisatorisch Rechnung und gründete 1984 den Bereich Kommunikations- und Datentechnik. Mit der Übernahme der Nixdorf AG verschmolz dieser Bereich 1990 zur Siemens Nixdorf Informationssysteme AG (SNI). Der als nationale Lösung deklarierte Erwerb des in eine Schieflage geratenen Unternehmens war eine klare Fehlentscheidung. Die Unternehmenskulturen und Auffassungen in der Führung des Geschäftes von Nixdorf und Siemens waren grundverschieden: hier das expansive, vertriebsorientierte, von einer technikbegeisterten Gründerpersönlichkeit geprägte, kaufmännisch eher nachlässig geführte Unternehmen der "Mittleren Datentechnik"; dort das Mainframebasierte Geschäft mit Schwerpunkt Großkunden. Als Ausweg aus den unvereinbaren Verhältnissen wurde an die Spitze ein mit dem Geschäft nicht vertrauter Top-Manager geholt. Nach einem „schulmeisterlichen" Change-Programm wurde SNI als Erfolgsstory dargestellt.
In den nächsten Jahren folgten die Herauslösung des Servicegeschäfts und die Gründung der „Siemens Business Services", die Einbringung des Hardware-Kerngeschäfts in das Joint Venture „Fujitsu Siemens Computers" sowie die Verselbstständigung und der Verkauf der Kassensysteme im Spin-off „Wincor Nixdorf"; letzterer wurde von einem Finanzinvestor erfolgreich an die Börse gebracht.
2. Mikroelektronik – Ausstieg aus einem hoch zyklischen Geschäft
Siemens hatte die Zukunftssicherung des Unternehmens auf drei Anwendungsgebieten gesehen, in denen ein Trend gesetzt werden sollte, und zwar bei: Office of the Future (OoF), Network of the Future (NoF) und Factory of the Future (FoF).
Die Realisierung dieser Visionen setzte voraus, dass das Unternehmen in der Mikroelektronik an der Spitze stand. Die Mikroelektronik war in Deutschland als Jobkiller verteufelt worden. Das Unternehmen hatte jedoch am Aufbau der Halbleitersparte festgehalten. Der Einsatz der elektronischen Bauelemente führte bei Geräten und Anlagen zu einem drastischen Abbau der Fertigungsstunden, 1965 wurde die erste in Europa serienmäßig gefertigte integrierte Schaltung vorgestellt, 1973 nahm Siemens die Produktion hochintegrierter LSI-Schaltkreise auf. Der verspätete Übergang auf die C-MOS-Technologie führte bald in eine chronisch ungünstige Kostenposition.
Um Anschluss an die Konkurrenz in den USA und Japan zu gewinnen, wurde zu Beginn der 1980er-Jahre das „Megaprojekt" gestartet. Dieses für damalige Verhältnisse ehrgeizige „nationale" Projekt war maßgeblich von dem aus der Kernkrafttechnik stammenden Technikvorstand Karl Heinz Beckurts in Gang gebracht worden. Ziel war es, möglichst schnell die notwendigen Verfahren zur Produktion des „1-Megabit-Chips" zu beherrschen. Da Siemens die „Zeit davonlief", ging das Unternehmen eine Kooperation mit Toshiba ein. Nachdem viel Lehrgeld gezahlt worden war, gelang es mit großer Unterstützung der Zentralen Technik im Halbleiterwerk Regensburg, die Produktion mit Erfolg aufzunehmen.
Die drastische Verkürzung der Innovationsprozesse in der Mikroelektronik und die dadurch bedingte Einrichtung neuer Fertigungslinien und Fertigungsstandorte (in Dresden und Großbritannien), die einen enormen Aufwand erforderten, führten oft zu Verstimmungen mit anderen Unternehmensbereichen.
Da Halbleiterspeicher (D-RAM) zu „Commodities" wurden, einem starken „Schweinezyklus" mit einem extremen Preisverfall unterlagen und einen stark wachsenden Investitionsbedarf nach sich zogen, entschloss sich Siemens, den Bereich Halbleiter in das Unternehmen „Infineon" auszugliedern. Das zu lange Setzen auf D-RAMs als Technologielokomotive erwies sich als teurer Fehler. Die Zukunft lag vielmehr bei anwendungsspezifischen Produkten.
Nach einer schwierigen Phase infolge von Branchenzyklen und Führungsproblemen ist Infineon nunmehr auf einem hoffnungsvollen Weg.
3. Bürosysteme – geprägt von Overengineering
1985 wurde das neue auf ISDN (Integrated Services Digital Net-work) basierende Bürosystem unter dem Namen Hicom vorgestellt. Hicom war eine Familie von Telefonanlagen, die auf einer digitalen Vermittlungstechnik und ISDN-Leistungsmerkmalen beruhte. Unter diesem Namen wurden nicht nur die Telefonanlagen vermarktet, sondern auch die dazugehörigen digitalen Endgeräte. Damit wurde die Grundlage gelegt für die Konvergenz von Sprach- und Datenübertragung. Hicom litt allerdings an Overengineering und brachte eine Fülle von Anwendungsmöglichkeiten, die dem Nutzer noch fremd waren. Den Kunden war zunächst nicht klar, warum sie in diese Anlage investieren sollten. Deshalb wurden in den Folgejahren vereinfachte, billigere Versionen entwickelt, die den Einstieg in die neue Technik erleichtern sollten. Die Sparte lebte lange von lukrativen Mietverträgen. Grundlegende Probleme wurden damit übertüncht: Es wurde nicht erkannt, dass Telefonieren zu einer Nebenleistung wurde. Das Bild wird dadurch vervollständigt, dass Siemens die Mehrheit an der Sparte Gigaset 2008 an den Finanzinvestor Arques verkaufte, der heute in großen Schwierigkeiten steckt.
4. Vermittlungstechnik – Festhalten an klassischer Technik
Auf dem Gebiet der Vermittlungstechnik hielt Siemens zu lange an der erfolgreichen analogen Technik fest und unterschätzte die sich anbahnende Bedeutung der digitalen Technik. Die Digitaltechnik ermöglichte erstmals das Zusammenführen bisher getrennt laufender Kommunikationswege für Sprache, Text, Bilder und Daten in einem einheitlichen Netz, dem ISDN. Für das „Network of the Future" entwickelte die Nachrichtensparte 1980 in einer dramatischen Aufholjagd zu den Innovatoren der Digitalen Ortsvermittlung Northern Telecom, Ericsson und dem deutschen Konkurrenten ITT/SEL die digitale Vermittlungstechnik EWSD (Elektronisches Wählsystem Digital).
Bei der Carrier-Vermittlungstechnik wurde der Übergang in einer großen Kraftanstrengung eindrucksvoll gemeistert: EWSD wurde in 90 Ländern die vorherrschende Technik. Der durchschlagende Erfolg von EWSD hat, wie schon erwähnt, spätere Fehlentwicklungen lange Zeit überdeckt. Die Sonderkonjunktur durch die Wiedervereinigung (1992- 94) tat ein Übriges. Ab 1994 wurde die Verschlechterung bei Umsatz und Ergebnis offensichtlich.
Infolge des Nachfrageeinbruchs nach 1999 war die weltweite Kapazität an klassischer Technik zu groß. Während Siemens, wie auch andere „klassische" Firmen (Lucent, Alcatel, Nortel), Probleme mit enormen Überkapazitäten hatte, gewannen Cisco in der Datenpaketvermittlung, Nokia und Ericsson bei Mobilfunknetzen durch neue Produkte, auch über Zukauf, im Wettbewerb. Letztendlich trug die sich ständig verschlechternde Ergebnissituation zum Niedergang der Kommunikationstechnik bei. Die Leitung setzte zu lange auf die Technik großer ATM (Asynchronous Transfer Mode-Switch) und sah nicht die rasante Entwicklung auf dem Mobilfunksektor und dem Internet und erkannte nicht die Konsequenzen für die Netzwerkstruktur. Das Internet sowie die moderne Peripherie wurden vernachlässigt. Spät ging man unter dem strategischen Motto „String of Pearls" Beteiligungen an jungen Spezialfirmen in den USA ein, die mit Ausnahme von Unisphere teure Flops wurden.
Mit der im Jahre 1998 erfolgten Eingliederung der agileren Privaten Nebenstellentechnik bzw. der Kommunikationsendgeräte in die öffentliche Vermittlungstechnik wurden zwar der mit Abstand größte Siemens-Bereich geschaffen, aber weder Synergien erzielt noch Kosten gespart.
Zu lange waren die entscheidenden Führungskräfte, an erster Stelle der im Telefongeschäft avancierte Zentralvorstand, dem Irrglauben verfallen, dass die Paketvermittlung auf Basis des IP-Protokolls „niemals" die Sprachqualität des Festnetzes erreichen könnte und damit ein zweitrangiges Anwendungssegment bleiben werde.
5. Mobilfunk – zu wenig kundenorientiert
Die Mobilfunkaktivitäten von Siemens waren eingebunden in den dominanten Bereich der Öffentlichen Nachrichtentechnik. Sprechend dafür waren die Bezeichnung „Bewegliche Funkanlage" für die Mobiltelefone und die Unterordnung des Mobile Switching-Geschäftes. Eine schwerwiegende Folge waren verspätete Entscheidungen, zum Beispiel in der Entwicklung eigener Basisstationen. Die Abhängigkeit von Philips, später von Motorola war für den Ausbau des Geschäftes kritisch. Wegen der vorherrschenden „Telefonsicht" wurde erst spät erkannt, dass mit dem Übergang auf den GSM-Standard das Mobiltelefon zusehends zu einem portablen Rechner mutierte.
Ein Fehler war auch, dass auf übergeordneter Ebene entschieden wurde, nicht immer dort, wo die Kompetenz am größten war. Schwerwiegende Managementfehler lagen in der Wahrnehmung des Kundenverhaltens: Man unterschätzte wiederholt die Aufgeschlossenheit der Kunden und die Bedeutung des Designs. Obwohl innovative Lösungen in Teilbereichen parat waren, wie zum Beispiel farbige Displays oder die dünnen „Schiebehandys", wurden sie verspätet eingeführt; ebenso wurden die „Klapphandys" erst auf Druck chinesischer Konsumenten hergestellt. Dass dann Motorola mit der von Siemens lizenzierten Technik beim „RAZR"-Handy erfolgreich war, ist ein deutlicher Beweis für einen mangelhaften Innovationsprozess. Schlechtes Timing, vor allem im Weihnachtsgeschäft, und Softwarefehler zogen Marktanteilsverluste nach sich.
Die Entwicklungs- und Fertigungsaktivitäten waren lange Zeit organisatorisch zu zerstreut, die Koordination der Produktentwicklung zu uneffektiv und die Fertigungs- und Logistikstrukturen nicht frühzeitig für das internationale Massengeschäft eingerichtet. In dieses imageträchtige Geschäft mischten sich übergeordnete Interessen und sogar persönliche Vorlieben von Vorständen ein. Die Verantwortung war nicht ausreichend klar geregelt, der Freiraum für unternehmerisches Handeln zu eng.
Die zunehmend schwächere Markt-und Ertragsposition zwang das Management – auch vor dem Hintergrund des Wechsels an der Unternehmensspitze – zu einem verlustreichen „Verkauf" an das taiwanesische Unternehmen BenQ. Nach kurzer Zeit scheiterte auch dieses, auf Consumer Products spezialisierte Unternehmen. Siemens erlitt in der Folge einen Imageschaden und war mit weiteren Bereinigungsaufgaben beaufschlagt.
6. IT-Dienstleistungen – auf Schlingerkurs
Das letzte Glied einer langen Kette von Problemfällen ist die Sparte Siemens Information Systems (SIS) mit rund 35 Tausend Mitarbeitern. Seit vielen Jahren bekam Siemens trotz oder wegen einer Reihe von Führungs- und Strategiewechseln einschließlich umfangreicher Unterstützung durch Strategieberater SIS nicht in den Griff. Die Sparte wurde zum 1. Juli 2010 ausgegliedert.
Entstanden war die Sparte 1990, als Siemens den Computerhersteller Nixdorf kaufte, um Vollanbieter auf dem Gebiet der Datenverarbeitung zu werden. Lange Jahre waren die IT-Services ein Teil des Kommunikationsbereiches. In dieser Einbettung wurde versucht, große Systemprojekte, wie beispielsweise für das Einwohnermeldewesen oder das Gesundheitswesen, im Ausland zu realisieren. Eine aggressive Akquisition und Abwicklungsprobleme bescherten massive Verluste.
Der zu Beginn 2010 verlautbarte drastische Stellenabbau war die späte Konsequenz dafür, dass, wie in anderen Sparten von IKT, über ein Jahrzehnt fortlaufend die Strukturen geändert und die Leitung ausgetauscht wurden. Das Management war folglich mit Kostensenkungsprogrammen, Verlagerungen und Umorganisationen beschäftigt und weniger mit Innovationen und dem Eingehen auf Kundenanforderungen.
Lehren aus dem Scheitern
An mehreren Stellen wurden die Gründe für den Niedergang der IKT bei Siemens aufgeführt. Im Folgenden werden sie klassifiziert und zusammengefasst.
1. Belastende Vergangenheit und unzeitgemäße Strukturen
Das lange Festhalten an überkommenen Strukturen, Denk- und Verhaltensweisen war für die meisten Siemens-Halske-Bereiche typisch. Es herrschten planwirtschaftliche Einstellungen. Diese sich ab den 1960er-Jahren als Hypothek erweisende Grundverfassung verschloss den Zugang zu neuen Möglichkeiten, die aus der Digitalisierung, der Jahrhundert-Innovation der IKT, erwuchsen. Eine direktive Führungskultur, eine stark funktionsorientierte Organisation und die allseitige Technikfixierung hemmten die notwendige Agilität, engten die Sicht auf Veränderungen in den Märkten und bei den Anwendern ein und führten zu marktfernem, bürokratischem bzw. technokratischem Verhalten. Die einseitige Orientierung auf den Monopolkunden Deutsche Post wirkte sich auf die Mentalität vieler Führungskräfte und Mitarbeiter aus.
Große technologische Umbrüche verlangen gesamthaft eine Umstellung der Geschäftsmodelle und der Führungssysteme sowie eine Neubesetzung bei Führungspositionen. Bei Siemens wurden nur partielle Änderungen und dies über lange Zeiträume vorgenommen. Es fehlte an einer starken unternehmerischen Führung, die diesen Wandel hätte bewerkstelligen können. Der Vorstand der Siemens AG als Leitungskollektiv war dazu strukturell und in diesem Bereich zu großen Teilen fachlich nicht geeignet. Anfang der 1970er-Jahre war Siemens in Folge der Zusammenfassung der früheren drei Stammgesellschaften der komplexeste und weitläufigste Technologiekonzern weltweit. Der Führungsaufwand wuchs überproportional und die Führungsschwäche wurde insbesondere in den hochinnovativen und schnellwachsenden Geschäften spürbar.
Mit vielen, kräftezehrenden organisatorischen Änderungen, meist mit Hilfe von Beratern eingeleitet, sollten technische und vertriebliche Schwächen kompensiert und Führungsfähigkeit demonstriert werden. Dennoch blieben lange Zeit bis zu zehn Hierarchieebenen bestehen, Entscheidungen litten am weitverbreiteten Besprechungs- und Abstimmungssyndrom. Die „funktionalen Silos" und das Nebeneinander bei der Kundenbetreuung – beispielsweise erhielt ein Kunde vier getrennte Angebote von drei Geschäftseinheiten lösten sich kaum auf. Gezielter
Personalwechsel zwischen Funktionen und Geschäften war wie die gemeinsame Sammlung und Auswertung von Erfahrungen selten, die sogenannten „Kaminkarrieren" dagegen häufig.
In der Siemens AG machte sich ab den 1980er-Jahren ein Drang nach Größe breit, ausgedrückt in Umsatz und Mitarbeiterzahlen. Große Sparten hatten den „unfairen Vorteil" der Größe und damit sowohl des Einflusses als auch einer relativ größeren Autonomie. Das traf im Besonderen für die Nachrichtentechnik zu. Kleine, dynamische Geschäfte erhielten nicht den ausreichenden unternehmerischen Freiraum. Statt das Prinzip „Wer wachsen will, muss kleiner werden" (im Sinne einer Zellteilung bzw. Dezentralisierung) anzuwenden, wurde organisatorische Größe präferiert; das mündete in zentralistische Strukturen, die die Entwicklungsmöglichkeiten für neue Geschäfte stark einengten. Die späte Einrichtung von „Venture Units" war ein zaghafter, vor allem auf Außenwirkung bedachter Versuch, dem innovativen Element mehr Entfaltung einzuräumen, der weitgehend wirkungslos blieb. Aus den Kommunikationssparten gab es auch keine nennenswerten „Spinoffs".
Als belastend erwies sich die besitzstandswahrende Haltung des Betriebsrates am Hauptstandort Hoffmannstraße. Diese stark IG-Metallorientierte Arbeitnehmervertretung erkannte nicht die Dringlichkeit des Wandels zu einem flexiblen, globalen Anbieter mit einer überwiegend „digitalen" und damit jüngeren Belegschaft. In der Schlussphase widersetzte sie sich unausweichlichen Personalanpassungen.
Kurz:
Digitalisierung, Dezentralisierung, Deregulierung verlangen flexible Strukturen und einfache, schnelle Prozesse.
2. Fehler in der Besetzung von Führungssaufgaben
Als hoffnungsvoller Weg wurde die wiederholte Neubesetzung von Führungspositionen durch tatkräftige Manager aus dem früheren Schuckert-Bereich begangen. Auf diese Weise sollte mehr unternehmerischer Schwung in die alten „Halske"-Strukturen eingebracht und die Integration von Siemens zu einem einheitlichen Konzern vorangebracht werden. In diesem Punkte zeigten sich vereinzelt Erfolge. Es fehlte aber an einem ausreichenden Geschäftsverständnis für IKT und an einer ganzheitlichen Einstellung auf die führungsmäßigen und organisatorischen Erfordernisse der aufkommenden Technik und Märkte. Der technischen Dezentralisierung und der Vielfalt der Anwendungen wurde zu wenig Rechnung getragen. Vermeintliche Synergien wurden höher eingeschätzt als innovative Einzelleistungen. Es wurde zu viel geplant, abgestimmt und zu wenig gehandelt. Siemens hatte für die Führung von IKT eine überkritische Größe erreicht. Erfolgreiche Player wie Apple, Cisco, Microsoft wurden dagegen unternehmerisch geführt; sie hatten visionäre Leute an der Spitze.Eine bremsende Wirkung auf Entscheidungen hatte die traditionelle
Auftrennung leitender Funktionen in technische und kaufmännische Zuständigkeiten. Die Verantwortung wurde dadurch und durch die vorherrschende Kultur der „Leitungskreise, Lenkungs- und Entscheidungsausschüsse" verwischt.
Das Management der letzten Generation der Kommunikationstechnik war überfordert. Es bediente sich zunehmend umfangreicher und wechselnder Unterstützung durch namhafte Unternehmensberatungen und viele interne Berater. Die Manager wurden von der zentralen Unternehmensentwicklung mit Ratschlägen überfrachtet. Die wesentliche Maßnahme, die unbefriedigende Ertragssituation zu verbessern, sahen sie im Abbau von Mitarbeitern. Dieser ging aber unverhältnismäßig zulasten der Basis vonstatten. „Cost cutting" wurde teilweise durch Verlagerung der Aufgaben sowie Reduzierung der Fertigungs- und Entwicklungstiefe und durch stärkeren Druck auf Lieferanten erreicht.
Als Ausweg für fehlende innovative Lösungen wurden vereinzelt Akquisitionen von bzw. Beteiligungen an innovativen Unternehmen erprobt, wie beispielsweise an Efficient Networks; mit desaströsem Ergebnis.
Angesichts der zahlreichen Falschbesetzungen in der Leitung der IKTSparten stellt sich die Frage der Verantwortung des Aufsichtsrates und Zentralvorstandes. Unklar blieb, nach welchen Kriterien die Auswahl erfolgte und warum in Einzelfällen sichtlich überforderte Führungskräfte zu lange gehalten wurden. Deren langjähriger und letzter „Bereichspate"
im Zentralvorstand - eine der wenigen personellen Konstanten im IKT-Geschäft - verfügte indessen über einen ungewöhnlich großen Freiraum, in das IKT-Geschäft hinein zu regieren und Infineon als Aufsichtsratsvorsitzender zu begleiten. Die Folgen des ständigen „Einmischens" und einsamer Entschlüsse waren fatal.
Kurz:
Für eine erfolgreiche Führung sind ein gutes Geschäftsverständnis, eine ergebnisorientierte Diskussionskultur und die unternehmerische Umsetzung unverzichtbar.
3. Ungenügende Beherrschung des Konsumgütergeschäftes und hoch dynamischer Geschäfte
Organisation, Führung, Mitarbeiter und Kostenstruktur waren traditionell auf das Anlagengeschäft abgestellt. Siemens war im Kern immer ein Anlagenbauer. Bei Konsumgütern wie Hausgeräten, Rundfunk- und Fernsehgeräten, gelang es selbst in der Phase eines aufgestauten Bedarfes nicht, befriedigende Ergebnisse zu erzielen. Diese Geschäfte erhielten nicht die angemessenen Strukturen, um sich dem Markt elastisch anpassen zu können und rasch zu reagieren.
Später gelang es dem Gemeinschaftsunternehmen Bosch-Siemens-Hausgeräte (BSH) ein Konsumgeschäft erfolgreich zu führen. Ein ähnlicher Fall ist Osram, ein ehemals gemeinschaftliches Unternehmen von AEG, GE und Siemens, in dem Siemens 1978 die Führung mit einer Unternehmerpersönlichkeit an der Spitze übernahm. Eine relativ große Autonomie, auch durch die Gesellschaftsform einer GmbH unterstrichen, ermöglichte unter einer einheitlichen Führung den Aufstieg zu einem weltweit führenden Hersteller von Leuchtmitteln.
Kurz:
Geschäfte verlangen angemessene Strukturen und einen dazu passenden Führungsstil.
4. Große Selbstzufriedenheit
Der langjährige große Ergebnisbeitrag in der Kommunikationstechnik verführte zu großer Selbstzufriedenheit und verstärkte den Glauben an die eigene Unverwundbarkeit gegenüber Newcomern. Eklatant war dies im Falle von Cisco, als sich die Gelegenheit bot, eine Kooperation bzw. Beteiligung einzugehen.
Als die desolate Lage von IKT unübersehbar war, wurde in großer Hektik eine Reihe von Programmen zur Neuausrichtung mit Unterstützung renommierter Berater, an erster Stelle McKinsey, in Gang gesetzt. Als letzte Maßnahme wurde die Leitung der Kommunikationssparte ausgetauscht. Im Nachhinein stellte sich auch heraus, dass die Bestechungspraktiken mit einem nicht mehr ausreichend wettbewerbsfähigen Angebot zusammenhingen.
Problematisch war das Fehlen einer Fehlerkultur: Man wollte alles richtig machen. Im Vorfeld von Entscheidungen und zur Absicherung war deshalb eine große Zahl von Planern befasst. Deren Einfluss war jedoch stark eingeengt. Ein Frühwarnsystem für sich abzeichnende Neuerungen war nicht wirkungsvoll, weil es in der Leitung eingefahrene Denkmuster gab. So hatten bei der Entscheidungsfindung Fertigungsüberlegungen ein unverhältnismäßiges Gewicht. Dass es an der notwendigen Agilität mangelte, verdoppelte das Problem.
Kurz:
Realitätsnähe ist grundlegend für eine rechtzeitige Ausrichtung. Selbstüberschätzung und starker Innenbezug führen ins Abseits.
Siemens ist exemplarisch für das Scheitern in der IKT, nicht nur von Deutschland, sondern auch von Europa. Weder der Status als „National Champion" noch die Einbettung in einen Großkonzern waren auf Dauer vorteilhaft. Vielmehr wurde dadurch die Auseinandersetzung mit dem Wandel in der Technik und bei den Anwendern hinausgezögert. Die Amerikanisierung der Unternehmensführung brachte dann die weitgehend emotionslose Trennung von diesem angestammten Kerngeschäft und den damit verbundenen Mitarbeitern.
Exkurs: Wie schnitten Konkurrenten ab?
Europa
Das schwedische Unternehmen mit einer engen Anbindung an die Wallenberg-Gruppe entwickelte sich zum weltweit größten Ausrüster für die Mobilfunk-Infrastruktur und wurde zu einem namhaften Anbieter von Internet- und Multimediakommunikation sowie Telekommunikation. Im Nachgang zur Übernahme von Marconi wurden die Aktivitäten in Backnang und Hildesheim geschlossen. 2001 wurde das Geschäft mit Mobiltelefonen in ein Joint Venture mit Sony eingebracht. Ericsson kaufte 2009 das Wireless Equipment-Geschäft von der in die Insolvenz gegangenen Northern Telekom.
Das Unternehmen wurde zum Weltmarktführer beim Hochgeschwindigkeitszugang (xDSL) und blieb einer der größten Anbieter für Internet-Lösungen und optische Netze. Aufgrund der Überkapazitäten und des ständigen Preisverfalls erlitt Alcatel Verluste. In einer Vorwärtsstrategie wurde 2005 die Fusion mit Lucent vollzogen.
Konsequenzen für die IKT-Politik in Deutschland
Der Niedergang der IKT bei Siemens sollte zum Anlass genommen werden, darüber nachzudenken, welche Auswirkungen die Aufgabe einer Schlüsseltechnologie wie die der IKT für den Wirtschaftsstandort Deutschland hat. Neben Fehlern von Unternehmen haben auch Politik, Wissenschaft, gesellschaftliche Kräfte und nicht zuletzt die Medien ihren Teil dazu beigetragen, dass Deutschland bei den neuen Technologien und Anwendungen den Anschluss verpasst hat. In den USA bestimmen vor allem die neuen Hochtechnologieindustrien und -dienstleistungen das volkswirtschaftliche Wachstum, während die deutsche Wirtschaft weiterhin von den klassischen Branchen getragen wird. Das ist eine solide, aber keine dynamische Grundlage.
Die Revolution der Digitalisierung und des Internet wurde „verschlafen". Dies gilt für internetbasierte Technologien ebenso wie für Mobilfunk oder große Teile der Software-Industrie. Computer, einst in Deutschland erfunden, kommen heute fast vollständig aus dem Ausland. Die Mikroelektronik als Basistechnologie, ohne deren Beherrschung alles andere, das darauf aufbaut, auch nicht beherrscht wird, wurde in Deutschland nicht als Chance gesehen, obwohl ein robuster Zusammenhang von Elektronikeinsatz und Wirtschaftswachstum besteht. Es wurde verabsäumt, Innovationen den richtigen Boden zu bereiten, auf dem reife Unternehmen und Start-ups die sich auftuenden Chancen für neue Geschäfte ergreifen konnten.
Deutschland braucht ein in die Zukunft gerichtetes Zusammenwirken von Unternehmen und Staat – vor allem aber Unternehmer
Deutschland liegt in den Kernbereichen der IKT zurück und sieht sich mit der Übermacht amerikanischer und zunehmend asiatischer Weltunternehmen konfrontiert. So primär die Rolle der Unternehmen ist, sie brauchen ein umfassendes und unkompliziertes Zusammenwirken mit dem Staat in seiner Funktion als Träger von Ausbildung, Förderer von Grundlagenforschung und als Infrastruktur-Bereitsteller. Der entscheidende Engpass in Deutschland sind jedoch unternehmerische Talente, die neue Anwendungen mit innovativer Technik kombinieren und auf diese Weise Wachstumsunternehmen aufbauen. Cluster im Umfeld von Hochschulen können Keimzellen dafür sein. Als großer Hemmschuh zeichnet sich der Ingenieurmangel ab.
Nicht die finanziellen Mittel sind das Hauptproblem. Dennoch ist eine klare Fehlallokation der Forschungsförderung zu konstatieren: Auf IKT entfallen gerade mal ein Drittel der Mittel für die Raumfahrt. Das ist der monetäre Nachweis dafür, dass es an einer überzeugenden Strategie für die Informations- und Kommunikationstechnologie nach wie vor fehlt. Dies ist aber eine zentrale Aufgabe für den Wirtschaftsstandort Deutschland und Europa.
B. Eidenmüller / M. Hoefle / A. Sorg