Er ist weithin unbekannt. Dieser „politische Meteorologe“, von dem Carl Jakob Burckhardt sagte, dass alle seine Voraussagen eingetroffen seien. Aufrichtigkeit, Unabhängigkeit und Bescheidenheit machten ihn zu einem Außenseiter. Sein Idealismus für Frieden und Freiheit ließen ihn zu einem Bankier werden, der sich „ohne Titel und Honorierung im Handeln von fünf Nationen an oberster Stelle einmischte.“(1)
Höchstgebildet – Freund politischer Antipoden
Felix Somary entstammte einer angesehenen Wiener Anwaltsfamilie, absolvierte das erlesene, benediktinisch geprägte Schottengymnasium, promovierte bei Carl Menger, dem Doyen der österreichischen Schule der Nationalökonomie, war Assistent von Eugen von Philippovic. Engen Kontakt unterhielt er zu dessen politisch gegensätzlichen Studenten: Emil Lederer (Soziologe), Joseph Schumpeter und zu Otto Bauer, dem Begründer des Austromarxismus. Mit Max Weber war er freundschaftlich verbunden.
Somary wurde Finanzsekretär der Anglo-Austrian Bank und unterrichtete in Berlin an der Hochschule für Staatswissenschaftliche Bildung. Mit seinem Engagement in Berlin wollte er zur Entspannung zwischen Deutschland und England beitragen. Ausdauernd setzte er sich mit der Geld- und Bankenpolitik auseinander, veröffentlichte dazu umfangreich. „Bankenpolitik“ (1915) war ein Standardwerk. Lange Zeit war er Gastprofessor in Heidelberg, als Vortragender vor allem zu Währungsfragen international unterwegs.
Zum Helfen berufen - für den Frieden kämpfend
In Vorahnung des währungspolitischen Chaos nach dem 1. Weltkrieg übersiedelte er von Wien nach Zürich, weil er die Schweiz als einzig verbliebenen Hort sicheren Vermögens ansah. Somary übernahm die Leitung der Privatbank Blankart & Cie – und wurde dabei zum Retter bedeutender Vermögen. Österreich vertrat er bei den Verhandlungen zum Waffenstillstand. Außerdem bemühte er sich um den höchstdringlichen Nachschub mit Lebensmitteln. 1932 erhielt er die Schweizer Staatsbürgerschaft. In den Jahren 1940-1944 lebte er mit seiner Familie (drei Kinder) in Washington. Dort setzte er sich im Auftrag des Bundesrates für die Aufrechterhaltung der Rohstoff- und Nahrungsmittelversorgung der Schweiz ein. Darüber hinaus war er finanzpolitischer Berater des amerikanischen Verteidigungsministeriums und der österreichischen Exilregierung.
Schon zu Beginn seines Berufslebens verspürte Felix Somary die Berufung zur Friedensarbeit. Diese Mission begründete er so: „Eine Idee, die den Frieden sichert, ist mehr wert als die Arbeit von Millionen in der Kriegsindustrie.“ Trotz vieler Enttäuschungen wurde er nicht müde, sich für Frieden und auf das Grundrecht für Leben, Freiheit, Ehre und Eigentum zu verwenden.
Prinzipiengeleitet
Als Vertreter der Österreichischen Schule war Somary erklärter Antiinflationist. Die keynesianische Konjunkturpolitik hielt er für einen Irrweg. Außerordentliches Geschichtswissen festigte seine Erkenntnis, dass Inflation stets Humus für totalitäre Entwicklungen ist und dass ein Staatsbankrott „ein einmaliger chirurgischer Eingriff ist, die Inflation eine permanente Blutvergiftung“. Der Goldstandard dagegen Garant solider staatlicher Haushaltsführung und Schutz vor Währungsverschlechterung, die immer auf den Betrug am Sparer und Konsumenten hinausläuft. Mit dem Goldstandard wären seiner Einschätzung nach Kriege zwar nicht verhindert, aber erheblich verkürzt worden. Die hohe internationale Verschuldung war für ihn das nur in Jahren auszuräumende Krebsübel des Finanzmarktes. Der Weltkrieg hatte einen Berg uneinlösbarer Forderungen aufgetürmt. Die Tradition soliden Geldes fand er nur noch im Bürgertum verwurzelt. Den Freihandel sah er als die folgerichtige Ausprägung wirtschaftlicher Freiheit.
Kartelle lehnte Somary grundsätzlich als Machtballungen ab. Denn nach uralter Erfahrung hat Macht die Tendenz, sich der Kontrolle zu entziehen und sich nach Möglichkeit ungehemmt auszudehnen. Die Vermachtung von Märkten in Form von Monopolisierung ist eine hinlänglich bekannte Erscheinung. Beispiele seiner Zeit waren Rohstoffkonzerne, die Schwerindustrie und der schwedische Streichholzmonopolist. Ebenso wie Joseph Schumpeter erkannte Somary die Gefahr, dass Wirtschaftsführer bzw. Manager(2) stets Größe anstreben, um sich auf diese Weise ungebührliche Vorteile zu verschaffen. Die unheilvollen Folgen davon sind eine sich steigernde Skrupellosigkeit im Wettbewerb und die raffinierte Erzeugung von Abhängigkeiten bei Kunden und Organen der öffentlichen Hand.
Damit verbunden ist die allseitige Verdrängung von Verantwortung. Sein erstes der zwanzig sogenannten „Sozialgesetze“(3) betont den entsprechenden Zusammenhang, der im staatlichen Bereich als auch in der Wirtschaft Gültigkeit hat: „Je stärker die Gewalt konzentriert ist, desto geringer ist die Verantwortung.“ Wo Verantwortung nicht fassbar ist, haben Machenschaften zulasten der Schwächeren ihren Lauf. Diesbezügliche Erscheinungen lassen sich heute vor allem in der Plattform-Ökonomie und bei Social Media beobachten.
Die Zukunft „in den Knochen“
Felix Somary hatte die frappierende Gabe der Voraussicht. Im englischen Titel "The Raven (Rabe) of Zurich" zu Aufzeichnungen zu seinem Leben wird augenfällig auf das Hellsichtige und Orakelhafte seiner Person angespielt. In seinem Geschichtsverständnis entwickelt sich Zukunft aus der Gegenwart, so wie diese aus der Vergangenheit entsteht. Geschichte verlaufe zu einem großen Teil zyklisch.
In vielen Vorträgen und Veröffentlichungen wurden zu erwartende politische und wirtschaftliche Vorkommnisse und Entwicklungen vorausgezeichnet: die Folgen der unmäßigen Friedensbedingungen der Alliierten, die übermäßige Verschuldung, der Zusammenbruch der New Yorker Börse, der Bruch des deutsch-russischen Nichtangriffspaktes, das Eintreten des 2. Weltkrieges und des Kalten Krieges wie das absehbare Scheitern der sozialistischen Wirtschaft.
Besonderer Erinnerung wert ist die 1931 geäußerte Prophezeiung, dass es zu drei Ereignissen kommen müsse, bevor die Wirtschaft sich wieder aufschwinge: die Bankensanierung in Berlin und Wien, die Loslösung des englischen Pfundes vom Goldstandard und der Bankrott des Konzerns des Streichholzmagnaten Ivar Kreugers. Noch im gleichen Jahr kam es zu einer Bankenkrise, in deren Folge der Goldstandard aufgegeben wurde und das Pfund stark abwertete. Im Frühjahr 1932 schließlich brach der Zündholzkonzern unter seiner Schuldenlast zusammen.
Gerade für die Verhältnisse der Gegenwart, insbesondere des ersten Halbjahres 2023, ist seine eindringliche Warnung vor Bankinsolvenzen als Vorboten von Finanzkrisen brandaktuell. Seine Warnung vor dem Börsencrash von 1929 wurde ins Lächerliche gezogen, die Gefahr des Staatsbankrotts für völlig übertrieben kritisiert. Nur: Felix Somary behielt Recht.
Lehren für Wirtschaft und Unternehmen heute
An dieser Stelle werden einige seiner Erkenntnisse zu sechs zeitlosen Lehren verdichtet, die vorzüglich geeignet sind, unsere aktuelle wirtschaftspolitische Diskussion zu bereichern :
Erste Lehre
Inflation ähnelt einer Sepsis. Sie infiziert den Blutstrom der Wirtschaft, schädigt Organe, vor allem den Finanzsektor und führt zu Folgekrankheiten. Ihre Gefährlichkeit wird von der Politik meist unterschätzt. Die Gefahr gesellschaftlicher Verwerfungen wird in der Regel nicht vorhergesehen.
Zweite Lehre
Zwischen Gewinnen und Löhnen/Gehältern ist auf Ausgewogenheit zu achten, damit die für den sozialen Frieden unabdingbare Balance von Arbeit und Kapital gewahrt bleibt. Die Geschichte zeigt, dass starke Ungleichgewichte zu Krisen und zu totalitären Verhältnissen führen.
Dritte Lehre
Bei allgemeiner Verunsicherung – sie trifft für den jetzigen Zustand zu – ist alles zu unternehmen, das Vertrauen in die Politik wiederherzustellen.
Vierte Lehre
Überschaubare Einheiten sind geeignet, Verantwortung zu lokalisieren und zu personifizieren. Überschaubarkeit ist die wirksamste Risikoprävention. Darum soll das föderative Element in Staat und Wirtschaft gestärkt werden.
Fünfte Lehre
Die bewährten Grundsätze eines ordentlichen Kaufmanns sollen für die gesamte Wirtschaft Maßgabe sein. Das sind „Wagemut, Voraussicht … (nicht an den ewigen Frieden oder ewige Prosperität glauben) und nüchterne Kalkulation“. Sie sind gleichermaßen Merkmale verantwortlichen Unternehmertums.
Sechste Lehre
Geschichte ist eine wichtige Lehmeisterin. Geschichtskenntnisse sollten Bürgerpflicht sein. Wie wenige hat Somary sein stupendes Wissen um geschichtliche Zusammenhänge zu treffenden Schlussfolgerungen für die Zukunft genutzt.
Felix Somary verdient es, in Erinnerung gerufen zu werden. Die Essaysammlung „Krise und Zukunft der Demokratie“ ist sein politisches Testament, das in unserer unsicheren Zeit wieder studiert werden sollte. Die damalige Gegenwart war die Zeit zwischen den Weltkriegen und der kalten Konfrontation zwischen Russland und Europa, die heutige ist der Dauerzustand von Kriegen und Konflikten und die offene Systemrivalität zwischen der westlichen Welt und China. Der Wunsch, visionäre Praktiker seines Formats zu haben, ist der Vater dieser Würdigung.
Anhang
Felix Somary hat die „Gesetze der verkehrten Proportion“ als Mahnung zum Lebensende verfasst. Die Auflistung unter dem Rubrum Managerismus soll anregen, Parallelen zu unheilvollen Entwicklungen in der globalen Wirtschaft zu bedenken und nach Abhilfen zu suchen.
Die zwanzig Sozialgesetze der verkehrten Proportion
- Gesetz: Je stärker die Gewalt konzentriert ist, desto geringer ist die Verantwortung
- Gesetz: Je größer (im öffentlichen Leben) die Schuld, desto geringer die Sühne.
- Gesetz: Je mehr Rechte jemandem zustehen, desto weniger werden sie wahrgenommen.
- Gesetz: Je mehr Funktionen ein Staat übernimmt, desto schwerer ist seine Verwaltung zu kontrollieren.
- Gesetz: Je größer und je vielseitiger der Staat, desto einflussloser das Volk.
- Gesetz: Je stärker der Druck der Regierung, desto geringer der Widerstand der Massen.
- Gesetz: Je größer der Hunger, desto geringer der politische Widerstand.
- Gesetz: Je größer die Zivilisation, desto geringer die Freiheit.
- Gesetz: Je mehr Gesetz oder richterliche Entscheidungen, desto weniger Recht.
- Gesetz: Je besser die Verkehrsmittel, desto leichter können sie abgesperrt und desto weniger können sie benutzt werden, wenn man sie am meisten benötigt.
- Gesetz: Je besser der Nachrichtendienst, desto weniger dringen der Tyrannis ungünstige Meldungen an die Außenwelt.
- Gesetz: Das Mitgefühl sinkt mit der Häufigkeit des Leides.
- Gesetz: Je mehr Tyrannen, desto weniger Opposition.
- Gesetz: Je weniger eine Sache begründet ist, desto leidenschaftlicher wird sie verteidigt.
- Gesetz: Je weniger der Staat seine Bürger schützt, desto mehr verlangt er für diese Funktion.
- Gesetz: Je schwächer der Staat, desto höhere Forderungen werden an ihn gestellt.
- Gesetz: Je mehr Geld ausgegeben wird, desto geringer ist der gesamte Geldwert.
- Gesetz: Je mehr die Oekonomie eine Erhöhung des Zinses verlangt, desto mehr senkt ihn die Politik herunter.
- Gesetz: Je schwächer die Staatsfinanzen, desto höher die Ausgaben.
- Gesetz: Je größer der Reichtum, desto geringer die Sättigung, desto stärker der Drang nach weiterer Vermehrung.
Quellen
- Felix Somary: Krise und Zukunft der Demokratie (1952), Neuauflage der 3. Auflage von 1984, 2010 Jena (mit Vorworten von Otto von Habsburg und Nachworten von Carl J. Burckhardt und Wilhelm Röpke)
- Felix Somary: Erinnerungen aus meinem Leben, NZZ Libro, Zürich, 2014 (mit Einführung von Tobias Straumann und Nachwort von Wolfgang Somary)
- Texte zu Felix Somary: Unabhängiger Ökonom und pragmatischer Analyst mit Weitblick - von Franz Blankart, Tindaro Gatani, Tobias Straumann, Wolfgang Somary
Anmerkungen
(1) Aussage des Sohnes Wolfgang Somary (1932-2017; Bankier, Publizist, Kunstsammler). Die Staaten sind Österreich, die Schweiz, Deutschland, Großbritannien, USA.
(2) Kennzeichen des Managerismus ist das Erreichen von Wettbewerbsvorteilen durch nicht-unternehmerische Leistung wie wettbewerbsschädigende Preisgestaltung, künstliche Verknappung, Konkurrenzabsprachen, Firmenübernahmen, Finanzakrobatik – im Gegensatz zu Leistung durch Innovation, Qualität, Produkt-/Leistungsperformance, Nachhaltigkeit.
(3) Komplette Aufstellung im Anhang