Altbundespräsident Horst Köhler kritisiert erneut die Denaturierung der Marktwirtschaft und die daran Beteiligten „special interest groups“ / Manageristen
(Auszüge aus der Rede „Der Kapitalismus – kreative Zerstörung?" vom 31. Januar 2013 in Herrenberg, Seiten 10-19)
„Wir leben aber möglicherweise nicht zuletzt deshalb heute in so unruhig-interessanten Zeiten, weil wir die vergangenen zehn, zwanzig Jahre ohne die Sehhilfe der Theorie verbracht haben oder mit den falschen Theorien, zum Beispiel mit der Theorie, dass man die Märkte und besonders den Finanzmarkt am besten sich selbst überlasse, weil der freie Wettbewerb und die ökonomische Rationalität der Marktteilnehmer schon für ausreichende Transparenz und Kontrolle sorgen würden.
Darum ein letzter Buchtip: Why Nations Fail baut auch auf einer brillanten Studie von Mancur Olson auf, die den Titel trägt: "Aufstieg und Niedergang von Nationen", und die sich ihrerseits ebenfalls auf Schumpeter bezieht. Olson geht vor allem der Frage nach, warum kleine, spezialisierte Interessengruppen viel leichter zusammenfinden und viel aktiver sind als große oder gar umfassende Gruppen wie etwa die Verbraucher oder die Steuerzahler und welche Folgen das Handeln der Sonderinteressengruppen, der special interest groups, für die Effizienz und für das Gesamteinkommen der Gesellschaften haben, in denen sie wirken.
Olsons Ergebnis: Kleine Sonderinteressengruppen bilden sich leicht und sind aktiv, weil ihre Mitglieder dafür starke ökonomische Anreize haben.
Das Handeln von Sonderinteressengruppen vermindert das gesellschaftliche Gesamteinkommen, weil solche Gruppen vor allem auf den eigenen Vorteil bedacht sind und diesen Vorteil auch dann verfolgen, wenn er gesamtgesellschaftlich hohe Kosten verursacht. Sie streben nicht danach, die gesamte Gesellschaft produktiver zu machen - das rechnet sich nicht, weil die Anstrengung die Gruppe zu viel kosten würde und der Anteil der Gruppe an einer produktiveren Gesamtgesellschaft verschwindend gering wäre - sondern diese Gruppen streben danach, exklusiv für ihre Mitglieder einen größeren Anteil an der Produktion der Gesellschaft zu erlangen. Ihre zentrale Absicht ist es also nicht, den Kuchen zu vergrößern, sie wollen "nur" ein größeres Stück davon. Sie suchen dafür häufig eine Symbiose mit den Inhabern der politischen Macht - man trifft sich in der Parlamentslobby, und nicht nur dort. Sie nutzen die Komplexität und Unübersichtlichkeit unserer modernen Lebensverhältnisse, um zum Beispiel im Regelungsdickicht ihre Sonderinteressen zu verfolgen oder gar selber an der staatlichen Regulierung mitzuwirken, wie das derzeit ja auch die Banken und die großen Wirtschaftskanzleien tun. Ihre Lobby-Tätigkeit erhöht die Komplexität der Regulierung, verringert aber nicht unbedingt die Zahl der Schlupflöcher und Umgehungsmöglichkeiten.
Die special interest groups nutzen außerdem den Umstand aus, dass es für die Masse der "Normalbürger" ökonomisch rational ist, sich wenig über politische und öffentliche Angelegenheiten zu informieren und wenig über sie nachzudenken. Denn selbst wenn sie das unter beträchtlichem Zeitaufwand täten, könnten sie als relativ schwache einzelne an den herrschenden Verhältnissen selbst bei größter Anstrengung kaum etwas ändern; und selbst wenn ihnen das doch gelänge, dann würden sie von verbesserten allgemeinen Verhältnissen als einzelne nur wenig profitieren. Also verharrt die breite Mehrheit der Bürger in "rationaler Ignoranz", wie Olson das nennt, und also haben wir auch zu wichtigen politischen Fragen Medien, die mehr der Unterhaltung dienen als der Information.
Je erfolgreicher Sonderinteressengruppen, Kartelle und Lobbies bei ihren Versuchen sind, sich Anteile am Einkommen und an den Ersparnissen einer Nation anzueignen, desto mehr ändern sich laut Olson "die Struktur der Anreize und die Entwicklungsrichtung in einer Gesellschaft. Der Anreiz zu produzieren ist vermindert; der Anreiz, einen größeren Anteil am Produzierten zu erlangen, nimmt zu. (...) die Belohnung für die Umgehung oder Ausnutzung von Regulierungen, von politischen Maßnahmen und von Bürokratien (...) nimmt zu. Diese Änderungen in der Struktur der Anreize lenken die Evolution der Gesellschaft in eine andere Richtung."
Sonderinteressengruppen gibt es in vielerlei Gestalt. "Ein bestimmter Wirtschaftszweig kann in der Hand von nur wenigen Unternehmen sein", schreibt Olson, und ich ergänze: wie das internationale Finanzwesen zum Beispiel und der Wirtschaftszweig Rating. Sonderinteressengruppen müssen nicht besonders sichtbar organisiert sein, mit Wappen am Sakko und Stammtischglocke. Man kennt sich, man hilft sich, das reicht. Jedenfalls: Sonderinteressengruppen sind, wie Olson gezeigt hat, für den wirtschaftlichen "Aufstieg und Niedergang von Nationen" von überragender Bedeutung - besonders für den Niedergang, steht zu fürchten.
Alle diese, in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften anerkannten, Grundlagen haben es politisch in sich. Mancur Olson (1932 - 1998), der gewiss ein friedfertiger Mensch war, schreibt gegen Ende seiner Studie: "Wir können jetzt besser Thomas Jeffersons Bemerkung würdigen, dass 'der Baum der Freiheit von Zeit zu Zeit mit dem Blut von Patrioten und Tyrannen aufgefrischt werden muss.'" Und dieser Thomas Jefferson, der nach George Washington und John Adams der dritte Präsident in der Geschichte der Vereinigten Staaten war, war übrigens ein ziemlich rabiater Gegner der Finanzaristokratie seiner Zeit.
Doch weiter, sine ira et studio: Wenn wir die Banken-, Finanz-, und Staatsschuldenkrise mit dem Instrumentarium untersuchen, das uns Schumpeter, Olson, Acemoglu und Robinson an die Hand geben, dann ergibt sich so etwas wie ein Anfangsverdacht. Er lautet: Auf den Finanzmärkten und in ihrem rechtlichen und politischen Umfeld sind zulasten der Nationen und zum Nutzen einer kleinen Oligarchie extraktive Institutionen aufgebaut worden.
Im einzelnen: Eine vergleichsweise kleine Sonderinteressengruppe, die Akteure auf den internationalen Finanzmärkten nämlich und im besonderen die Gruppe der sogenannten Investmentbanker, hat in der Bankenwelt, im Finanzsystem und in der Weltwirtschaft auf jede von Schumpeter vorausgesehene Art einen Schub der Zerstörung ausgelöst:
- mit neuen Produkten in Gestalt der Finanzderivate,
- mit neuen Produktionsmethoden dank Internet, komplexer mathematischer Modelle und Supercomputer,
- durch die Erschließung neuer Absatzmärkte zum Beispiel in der Immobilienfinanzierung für Habenichtse, in der Spekulation mit Rohstoffen und durch den Absatz von Schrottpapieren beim dumb German money,
- dank der Erschließung neuer Bezugsquellen, beispielsweise in Form von Regelungsarbitrage und von Wetten auf neuen Gebieten, vom Neuen Markt bis zu den emerging markets, und
- schließlich durch den Aufbau einer mächtigen Interessenvereinigung mit Kartell- und Lobbycharakter in der Wall Street und in der City of London, die kollusiv zusammenwirkt - Beispiel Libor-Skandal -, die eine enge Symbiose und sogar eine massive Personalrotation mit dem politischen System einiger Staaten aufgebaut hat und die ihre Geschäftspraktiken dank staatlicher Deregulierung institutionalisieren konnte.
Der von der Finanzindustrie ausgelöste Schub an "kreativer Zerstörung" kam finanziell in allererster Linie den handelnden Individuen dieser Sonderinteressengruppe zugute. Sie haben Gehälter und Boni in obszöner Höhe und satte Dividenden eingestrichen und sind, als es dann krachte, der persönlichen Haftung für ihre Entscheidungen fast völlig entgangen. Dagegen hat die angerichtete
Zerstörung die Produktivität der Nationen nicht in einem Maße gehoben, das diese "Pioniergewinne" der Finanzindustrie rechtfertigen könnte, im Gegenteil: Wir erkennen mittlerweile, wie teuer die Zerstörung durch finanzielle weapons of mass destruction (Warren Buffett) unsere Nationen zu stehen kommt.
Die von den Finanzmarktakteuren angerichtete Zerstörung belastet die Allgemeinheit durch öffentliche Schulden, wirtschaftlichen Abschwung und Arbeitslosigkeit. Den Sparern droht finanzielle Repression. Das demokratische System verändert sich durch die Entscheidungszwänge des Krisenmanagements, es tendiert zur Schließung, zur Verlagerung der Entscheidungen in zentralisierte, wenig transparente, exekutiv dominierte Gremien, auch wenn die Parlamente und Verfassungsgerichte sich dem erfreulicherweise entgegenstemmen und dabei Erfolge vorweisen können.
Außerdem scheint sich der Schluss zu bewahrheiten, den Mancur Olson 1982 aus seinen Ergebnissen gezogen hat: Das angelsächsische Modell des Finanzkapitalismus hat, zumindest in den USA und in Großbritannien, auch einen Wandel in der gesellschaftlichen Entwicklungsrichtung bewirkt, weg von der Industrie-produktion, hin zur Finanzindustrie, die mit anderer Leute Geld spekuliert und dafür "Gebühren" nimmt.
Das traditionelle deutsche Produktionsregime und die traditionelle deutsche Wirtschaftskultur haben diesen Wandel noch nicht mitgemacht, darum sind wir besser durch die bisherige Krise gekommen, aber wir bleiben ihm ausgesetzt. Der "Kulturkampf" (Manfred Abelshauser) geht weiter, übrigens auch bei den Angelsachsen. Dort gibt es ja auch eine Tradition des "Trust Busting", des Zersprengens gemeinwohlschädlicher Konzerne. Präsidenten wie Theodore Roosevelt, William Taft, Woodrow Wilson, Herbert Hoover und Franklin Delano Roosevelt haben gemeinsam mit dem Kongress einigen "Räuberbaronen" (wie man sie damals nannte) in der Öl- und Stahlindustrie und auch den Banken wirksame Grenzen gesetzt. Wünschen wir Präsident Obama ähnlich viel Entschlossenheit und Erfolg! Aber täuschen wir uns nicht: Jeder Versuch, Oligarchien von ihren extraktiven Positionen zu vertreiben, wird Widerstand auslösen, von gespielter Zerknirschung und zur Schau getragener Demut bis zum Versuch, in jeder nur denkbaren Weise eine ordnungspolitisch wirksame Gesetzgebung zu hintertreiben. Dafür gibt die Finanzindustrie dem Vernehmen nach längst Hunderte Millionen Euro jährlich aus.
Doch damit darf sie nicht durchkommen, denn nochmals, die besonders beunruhigende Lehre aus den zitierten Forschungsergebnissen lautet: Wenn der skizzierte Anfangsverdacht zutrifft und die tiefgreifende Fehlentwicklung auf den westlichen Finanzmärkten nicht radikal korrigiert wird, dann könnte das unsere Nationen dauerhaft Prosperität und wirtschaftliche und politische Freiheit kosten und dann könnte das ein Beitrag zum Niedergang des Westens sein.
Es geht also im Gefolge der Krise auch darum, unsere inklusiven politischen und wirtschaftlichen Institutionen zu verteidigen gegen mächtige Sonderinteressen und unsere Institutionen gerade dadurch zu bewähren und zu stärken, dass diese Sonderinteressen wirksam gezügelt werden, dass ihnen wirksame Grenzen gesetzt werden.
Sonst leidet unsere Prosperität, sonst werden ungezählte weitere Bürgerinnen und Bürger für die angerichtete Zerstörung und für extraktive Strukturen mit individueller Perspektivlosigkeit und mit dem Gefühl politischer Ohnmacht zahlen, und sonst verlieren unsere demokratischen und marktwirtschaftlichen Institutionen an Macht, Vertrauen und Legitimität.
Das heißt: Frau Wagenknecht hat Recht, wenn sie unsere Zeit als eine historische Stunde für bessere Ordnungspolitik begreift. Und die Schweizer geben uns ein Beispiel dafür, wie sich mit einer griffigen Kampagne die rationale Ignoranz der Allgemeinheit hinsichtlich der komplexen Fragen des wirtschaftlichen und politischen Lebens überwinden lässt und wie Elemente direkter Demokratie die Responsivität des politischen System verbessern und ihm "indirekte Gegenvorschläge" entlocken. Die Krise sollte uns Anlass sein, die Vitalität unserer parteienstaatlichen Demokratie zu prüfen und nach Wegen zu suchen, den Einfluss der Bürger auf politische Entscheidungen zu stärken, auch um ihr bürgerschaftliches Interesse an den öffentlichen Angelegenheiten zu beleben und den Fatalismus zu bekämpfen, der bei den Wählern um sich greift. Das gilt für Deutschland, und das gilt für die demokratische Dimension der Europäischen Union.
Das Beispiel "Abzockerinitiative" ist aus einem weiteren Grund interessant. Es wirft die Frage auf, ob es legitim ist, wirtschaftliche und politische Fragen mit Vorwürfen gegen Gruppen zu verbinden. Ich unterstreiche an dieser Stelle, dass ich mir kein Urteil darüber anmaße, ob und in welchem Umfang die Anliegen und Vorschläge der Initiative berechtigt sind. Darüber haben ausschließlich die Schweizerinnen und Schweizer zu entscheiden. Davon völlig abgesehen: Wenn der skizzierte Anfangsverdacht gegen die von Menschenhand auf den internationalen Finanzmärkten geschaffenen Strukturen zutreffend ist, dann ist es sogar geboten, in der Auseinandersetzung mit den Ursachen und den Folgen der gegenwärtigen Krisen auch in Gruppenkategorien zu denken und zu entscheiden. Damit ist kein individueller, persönlicher Schuldvorwurf gegen jeden einzelnen Finanzmarktakteur verbunden, auch wenn diejenigen, die Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten begangen haben, natürlich dafür büßen sollten.
Es geht nicht um Charakterfragen, wenn der Einfluss von Sonderinteressengruppen bekämpft wird, sondern um Ordnungspolitik, die einer Gruppe den ökonomischen Anreiz dafür nimmt, sich auf Kosten der Allgemeinheit zu bereichern. Deshalb geht es auch nicht darum, einzelne schwarze Schafe in der Interessengruppe auszusondern. Es geht darum, von bestimmten Weideflächen die ganze Herde auszusperren.
Die Zähmung des Finanzkapitalismus ist für die freiheitlichen Demokratien und für ihre künftige Prosperität eine Wegscheide. Welchen Pfad wir nehmen, wird zeigen und wird prägen, wie gut unser politisches System und wie gut wir alle mit krisenhaften Herausforderungen umgehen können. Was wir brauchen, ist eine breite Koalition für die nötigen ordnungspolitischen Veränderungen. Das setzt genug mündige Bürgerinnen und Bürger voraus, die das Gebot der Stunde erkennen und sich zu entschlossenem Handeln aufraffen. Wir erleben nicht das Ende des Kapitalismus - der wird weitermachen, auch wenn er womöglich seinen Charakter und seine Kultur weiter in Richtung Finanzkapitalismus verändert.
Nein, wir erleben nicht das Ende des Kapitalismus, sondern eine Probe auf unsere Begabung zur Freiheit, auf unser demokratisches Selbstbewusstsein und auf unsere ökonomische Klugheit."
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