Unternehmen & Branchen
Denkschrift Nr. 18
07.01.2016

Transaktion oder Innovation – das ist die Frage: Käufe und Verkäufe von Unternehmen/-steilen am Beispiel Siemens

von Manfred Hoefle

 

 

Nur ein Idiot glaubt, aus den eigenen Erfahrungen zu lernen. Ich ziehe es vor, aus den Erfahrungen anderer zu lernen, um von vornherein eigene Fehler zu vermeiden.
Otto von Bismarck (1815 - 1898)

 

Zusammenfassung

Es ist evident: Je mehr Transaktionen – das sind Käufe und Verkäufe von Unternehmen/-steilen - angestoßen werden, in der Schwebe sind, abzuwickeln und zu integrieren sind, desto weniger Aufmerksamkeit widmet eine Leitung der kontinuierlichen Entwicklung ihres Unternehmens. Diese hängt aber in hohem Maße von Innovationen und ständiger Verbesserung in allen Belangen ab; sie wiederum verlangen eine Hinwendung zu den Mitarbeitern, sie verlangen Investitionen in die Neuerungsfähigkeit, wozu vor allem Forschung und Entwicklung, Aus- und Weiterbildung zählen. Das Ganze ist langfristig angelegt und muss beständig betrieben werden.

Transaktionen sind das Gegenteil. Mit der Ausrichtung auf das Portfolio-Management und den Shareholder-Value ist zwangsläufig die Kurzfristigkeit aufgekommen und die Austauschbarkeit, der Handel mit Unternehmen und Teilen davon Normalität geworden. Das Management von Großunternehmen versteht sich indes zunehmend als „Cashflow-Optimierer“ und Akteur in Sachen Transaktion.

An Siemens kann dieser Wandel besonders gut exemplifiziert werden. Seit den späten 1990er-Jahren ist es zu einer Umwälzung des Unternehmensportfolios gekommen. Ganze Sektoren, so das Nachrichtengeschäft, die Wiege des Unternehmens und das mühevoll und mit großer staatlicher Unterstützung aufgebaute Halbleiter- und DV-Geschäft, und viele Spezialgeschäfte wurden abgetrennt, in einigen Fällen erfolgreich an die Börse gebracht. Alles in allem macht diese Umstrukturierung eine Belegschaftsgröße aus, die in etwa der jetzigen von rund 350 Tausend entspricht. Auf der anderen Seite wurden in den letzten 25 Jahren über 50 Akquisitionen getätigt, die sich auf gut die Hälfte der durchschnittlichen Belegschaftsgröße dieser Zeitspanne summieren. Für die Akquisitionen, vor allem für die großen, teuren in den USA, wurden Mittel in der Größenordnung von 50 Mrd. Euro aufgewendet; das ist mehr als 40 % der Erlöse aus Desinvestitionen. Auf die letzten 10 Jahre entfielen 70 % dieser Akquisitionssumme. Hinter den jüngsten Transaktionen steht die Logik, sich von kurzzyklischen, kapitalintensiven, auf Endkunden gerichteten Geschäften zu trennen und auf langlebige Produkte und Systeme, auf Infrastrukturgeschäfte zu setzen.

Die Transaction-Performance von Siemens ist durchwachsen - um nicht zu sagen, unbefriedigend; das, obwohl der jeweilige CEO/Vorstand in hohem Maße damit befasst war, umfangreichen Support dafür vorhielt und in Anspruch nahm. Das Ganze steht im Widerspruch zur Story, die zum Termin der jeweiligen Transaktion vermittelt wurde, nämlich eine auf großen Synergien beruhende, solide, zukunftsgerichtete Maßnahme.

Die Lehren: Ein Unternehmen, das dynamisch, innovativ und robust sein will, muss auf seine spezifischen Fähigkeiten bauen und die eigenen Kräfte kultivieren, nur ergänzend und umsichtig „transaktionieren“. Im Falle von Siemens ist es höchste Zeit, Innovation und Mitarbeiterbindung - die Tugenden aus guten und schweren Zeiten des Unternehmens - wieder aufleben zu lassen.

Schlaglichter

Von Zeit zu Zeit erfasst eine Merger-Mania Teile der Wirtschaft; zur heutigen Zeit die Pharmaindustrie, aber auch die sogenannte Tech-Industrie mit den Internet-Playern und die Medienbranche. Nicht so sehr die plötzliche Häufigkeit löst Erstaunen aus, als die Größe der Deals. So will Pfizer mit Allergan fusionieren, dafür 160 Mrd. USD(1) zahlen, den Firmensitz nach Dublin verlegen und sich aus steuerlichen Gründen(2) formal von Allergan übernehmen zu lassen, um danach wieder die Nummer 1 der Branche zu sein. 2009 hat Pfizer das hochproduktive US-Pharmaunternehmen Wyeth für 68 Mrd. USD übernommen, davor die Großunternehmen Warner-Lambert (2000) und Pharmacia (2003).(3) Im Jahr 2014 sollte das britische Unternehmen AstraZeneca zu der Preissumme von 100 Mrd. Euro gekauft werden; alles, nachdem bekanntlich die Performance von Megafusionen in der Pharmabranche durchwegs enttäuschend war.(4) Seit diesen Großakquisitionen figuriert indes Pfizer nur mehr als "weak inventor".

Nun zu Siemens: Der Fall einer relativ kleinen, doch spektakulären Übernahme ist Dresser-Rand. Für diesen Deal gab Siemens nach einem angeblichen deutsch-schweizerischen Bietergefecht(5) 7,8 Mrd. USD aus; für einen Hersteller von Kompressoren in Houston/Texas mit einem Umsatzvolumen (2014) von 2,8 Mrd. USD und knapp 8000 Beschäftigten. Mit einem Umsatz-Multiple(6) von 2,8 wurde Dresser-Rand wie ein Wachstumsunternehmen, wie ein Hoffnungswert gehandelt, und das nachdem die Ölbranche bereits in eine Phase der Investitionszurückhaltung gerutscht war. Die schiefen Relationen von Umsatz, Gewinn und Kaufpreis machten diesen, vom Management hartnäckig verteidigten und von den Aktionärsvertretern einhellig kritisierten Deal zum Hauptthema der Hauptversammlung im Januar 2015. Im Nachhinein wurde noch bekannt, dass der bisherige CEO mit einem Paket von 113 Mio. USD verabschiedet wurde und Board-Mitglieder enorme Bleibeprämien erhielten. In der Tat ein von Siemens gesponserter Fall manageristischer Selbstprivilegierung!

Ein schon historisches Beispiel für einen spektakulären Deal war der Verkauf des Handygeschäftes an BenQ, einen mittelgroßen taiwanesischen Elektronikproduzenten. Dieser Verkauf wurde unter hohem Zeitdruck von dem auf Wirkung bedachten Vorstandsvorsitzenden Klaus Kleinfeld zum Geschäftsjahresende Oktober 2005 unter sofortiger Zugabe von 350 Mio. Euro arrangiert; 15 Monate später war die Produktion eingestellt und danach die Insolvenz angemeldet, die Siemens weitere hunderte Millionen Euro kostete und einen bis dahin nicht gekannten Rufschaden hervorrief. Vergessen ist die Selbstgewissheit, mit der die Transaktion gefeiert wurde: "Mit dieser Partnerschaft haben wir eine nachhaltige Perspektive für unser Mobiltelefongeschäft gefunden". Seine Erklärungen zur späteren Fusion des Kommunikationsnetz-Geschäftes mit Nokia zu Nokia Siemens Networks (NSN) waren auf verblüffende Weise gleichlautend.(7) Im Endergebnis waren viele Verkäufe von Siemens-Geschäften hinreichend Beweis für eine schwache Managementleistung.

Noch ein historisches Datum: Am 12.3.2001 wurde die Siemens-Aktie nach mehr als zwei Jahren aufwändiger Vorbereitung an der New Yorker Börse (NYSE) gelistet. Die Argumentation dafür war, die Aktie offensiv als Tauschwährung bei zukünftigen Akquisitionen von US-Unternehmen einzusetzen. Im Jahr 2014 erfolgte das Delisting mit dem Argument, dass die Präsenz den Aufwand dafür nicht lohnt und - was unerwähnt blieb -, dass nach den kostspieligen Strafmaßnahmen der Börsenaufsicht (SEC) und den horrenden Anwaltskosten das Faible für die Platzierung in den USA vollends geschwunden war. Die Börseneinführung allein hat Siemens einen direkten Aufwand von mehr als 200 Millionen Euro beschert.

Diese wenigen Schlaglichter auf die Transaktions-Szene lassen den wiederkehrenden Überschwang, die Haltlosigkeit von Versprechungen, zugleich die Faszination und Früchte von M&A für das Management selbst hervortreten.

25 Jahre Siemens-Transaktionen

Im Anschluss wird ein kurzer Bericht über die von Siemens während der letzten 25 Jahre getätigten Käufe und Verkäufe von Unternehmen und -steilen gegeben. Die komplette Auflistung der Transaktionen ist im Anhang enthalten.

Hinweis:
Basis dieser Auflistung sind in erster Linie Unternehmensberichte, Pressemeldungen, eigene Recherchen und Schätzungen. Für einige Desinvestitionen und Akquisitionen sind keine Angaben verfügbar. Geringfügige Transaktionen bleiben unberücksichtigt. Probleme eines Langzeitvergleichs hinsichtlich Währungsschwankungen, Inflation und intransparenter Goodwill-Abschreibungen sind gegeben. Worauf es im Folgenden ankommt, sind plausible Größenordnungen bzw. Vergleiche.
Diese Ausgangsarbeit soll Anlass zur Vervollständigung und weiteren Vertiefung sein, um der Siemens-Tradition der historischen Aufarbeitung nachzukommen.

Transaktionsmuster

In der Zeit vor 1990 waren Unternehmenskäufe und -verkäufe in Deutschland, mit Ausnahme der untergegangenen hochdiversifizierten AEG und der zum Mischkonzern gewordenen Mannesmann, verglichen mit den USA oder Großbritannien eher selten. Siemens führte vereinzelte kleinere Käufe durch im Bereich Medizintechnik (Dental, Schrittmacher), von Automotive (Bendix), in der Datentechnik und Kommunikation. Den Schwerpunkt bildeten die noch wenig erschlossenen USA. Verkauft wurden nur elektrofremde Beteiligungen wie Polygram (1985), Bauunion (1972) und die Plania-Werke (1972) mit Kohlenstoffprodukten.

Die zugrunde liegende Logik dieser Transaktionen waren strategische Ergänzungen außerhalb des Kerngeschäftes und branchenfremde Bereinigungen. Siemens wurde nach der großen Integration der Teile Siemens-Schuckert, Siemens & Halske, einschließlich ehemals Siemens-Reiniger-Werke (Medizintechnik) von 1969 der weltweit am stärksten diversifizierte Anbieter von Elektrotechnik.

Nun zu den Desinvestitionen und dann zu den Akquisitionen im Einzelnen und zu der mehr oder weniger erkennbaren Logik dahinter, zusätzlich einer ersten Bewertung.

Desinvestitionen

Phasen

Im Nachhinein lassen sich unter Ausblendung einiger spezifischer Fälle folgende Phasen und Schwerpunkte ausmachen: In der ersten Phase, der 1990er-Jahre, wurden Randgeschäfte wie Dental, Insta-Großhandel, Verteidigungstechnik abgestoßen; in der zweiten Phase um die Jahrtausendwende wurden im Zuge des „Zehn-Punkte-Programms“ die Komponentenbereiche Elektromechanische Komponenten (EC), Passive Bauelemente (PR) und Halbleiter (HL), zusätzlich das Materialgeschäft der Vacuumschmelze GmbH verkauft(8). Die dritte Phase 2005-2011 umfasste im Wesentlichen die Trennung vom Produktgeschäft der Datentechnik, vom Handy-Geschäft, von Gigaset und von Automotive. In der Phase vier, 2013 bis heute, kam es zur endgültigen Verabschiedung, nämlich von der Kommunikationstechnik, dem Ursprungsgeschäft von Siemens (NSN);(9) darauf folgte im Wesentlichen die Aufgabe des letzten Massen-/Consumer-Geschäftes mit Osram und der hälftigen Beteiligung am Hausgerätegeschäft (BSH).

Mit der Daten- und Kommunikationstechnik hat sich Siemens von Geschäften getrennt, die im Allgemeinen als "High-Tech", also als hochinnovativ und konvergent, als Wachstumsgebiete gelten und aufgrund des Vernetzungspotenzials und des Produktivitätshebels zu den Kernbranchen fortschrittlicher Industrienationen zählen. Die mit Abstand größte Volkswirtschaft Europas erfuhr den langsamen Verlust des über Generationen gepflegten „Nachrichten“- und DV-Unternehmens, ein Untergang, der der Politik erstmals im Zusammenhang von NSA und „Safe Haven“ bewusst wurde. Das Versagen der EU-Technologiepolitik wurde offenkundig, ohne dass daraus Konsequenzen gezogen wurden.

Erlöse / Verluste

Im Zeitraum von 1999 - 2014 wurden - berechnet und zum Teil geschätzt zu jeweiligen Zeitwerten - rund 40 Mrd. Euro aus Verkäufen erlöst. Von dieser überraschend geringen Summe entfallen allein 11,4 Mrd. Euro auf Siemens Automotive (an Continental) und 6,5 Mrd. Euro aus der Börsenkapitalisierung von Infineon. Osram ist anders gelagert, weil dieser "Carve-out" nach einer schmerzlichen Sanierung an den M-Dax gebracht wurde und die Siemens-Aktionäre Aktien zugeteilt erhielten(10).

Nicht berücksichtigt wurden in der Aufstellung kleine Transaktionen wie Flughafenbefeuerung, Wireless Modules, Roke Manor (FuE-Gesellschaft), Archimede Solar, Kordoba (Banken-Software), Optisphere, Unisphere, Ormet Data Com Techn., Schroder Leasing und andere.

Viele Geschäfte wurden - so die übereinstimmende Einschätzung mehrerer Kenner der M&A-Szene - unter ihrem tatsächlichen bzw. potentiellen "inneren Wert" verkauft, weil den Übernahmeinteressenten ausreichend klar war, dass sich Siemens wegen mangelnder Fähigkeit zur Sanierung und Neuausrichtung möglichst rasch zurückziehen wollte; Kalamitäten wie mit BenQ galt es in jedem Fall zu vermeiden.

Der abgetrennte Umsatz (Desinvestitionen) entspricht dem durchschnittlichen Umsatz der letzten 25 Jahre bzw. knapp 90 % des letzten Jahres. Der gesamte Beschäftigungsabgang während dieses Zeitraums liegt rund 10 % über dem derzeitigen Mitarbeiterstand. Die Erlöse belaufen sich auf rund 40 Mrd. Euro (ohne Berücksichtigung des hohen über Jahre sich hinziehenden Restrukturierungsaufwandes im Kommunikationssektor).

Akquisitionen

Beim Erwerb von Unternehmen/-steilen lassen sich vier verschiedene Stoßrichtungen erkennen:

Zielrichtung

  1. Selektive Zukäufe zur Ergänzung/Expansion eines Geschäftsgebietes
    Dazu zählen Kommunikation, Computer (Nixdorf), Automatisierung, Product-Life-Cycle-Management, Beleuchtung, Kraftwerkstechnik, Medizintechnik, Antriebstechnik, Turbinen und Kompressoren.
  2. Zukäufe zum Aufbau eines neuen Geschäftes
    Darunter fallen Wasseraufbereitung (spätere Desinvestition), Labordiagnostik, Erneuerbare Energien (Windkraft und Solar einschl. Unterwassernetze) und zum Teil Eisenbahnverkehrstechnik, Gebäudetechnik.
  3. Akquisitionen relativ diversifizierter Großunternehmen
    Das sind die fünf Großübernahmen: Plessey (GBR), Nixdorf, Elektrowatt (CH), Atecs (Mannesmann Industrie), VA-Tech (A).
  4. Sonderfall: Weiterführung der Erfinderfirmen Zuse und Hell
  5. Sonderfall: Corporate Venture Capital (VCB), Schroders

Der Wertbeitrag dieser Kategorien fiel sehr unterschiedlich aus(12): Während ein großer Teil der selektiven Zukäufe erfolgreich war, waren die Zukäufe für „neue“ Gebiete im Großen und Ganzen kostspielig oder sogar Flops. Das Ergebnis der Akquisitionen diversifizierter Großunternehmen war in hohem Maße von der kulturellen Verwandtschaft mit den jeweiligen Siemens-Geschäften abhängig. Nixdorf war ein langwieriger Problemfall, wie auch die von Erfindern gegründeten Unternehmen, mit denen das vereinnahmende und auf Konformität gepolte Großkundengeschäft von Siemens nicht zurecht gekommen ist. Ein beträchtlicher Teil der schwierigen Fälle wurde auf verschiedenste Weise wieder abgestoßen. Bereits 1983 startete Siemens mit Corporate Venture Capital als Gründungsgesellschafter der ersten deutschen VC-Gesellschaft Techno Venture Management (TVM), hoffte auf diesem Weg ein Nahverhältnis zu Startups aufbauen und lukrative Beteiligungen eingehen zu können. Im Unterschied zu vielen Großunternehmen blieb Siemens diesem Geschäft aber verbunden. Unstimmigkeit in der Zielsetzung, Unstetigkeit in der Betreuung und umständliche Beziehungen zu den jungen, kleinen Unternehmen waren (und sind) einem nennenswerten Erfolg abträglich.(13)

Geschäftliche bzw. technologische Schwerpunkte bildeten die Akquisitionen unter der Rubrik die "Digitale Fabrik" mit 4,5 Mrd. Euro, die Labordiagnostik mit 12,7 Mrd. Euro bezogen auf einen Umsatz (2014) von nur 3,8 Mrd. Euro; Renewables mit rund 1,4 Mrd. Euro; Turbomaschinen mit 9,5 Mrd. Euro und das für Siemens völlig neue Geschäftsfeld "Water" mit fast einer Mrd. Euro. Aus Innovationssicht waren hauptsächlich die wenigen Übernahmen wertvoll, die die Digitalisierung unterstützten, oder neue Diagnosemöglichkeiten, wie die Positronen-Emissions-Tomographie (PET), erschlossen.

Phasen

In der Zeit von 1993-97 war das Volumen mit rund vier Mrd. Euro gesamt gering. Danach wuchs es beträchtlich und erreichte im Jahr 2005 mit drei Mrd. Euro einen ersten Höhepunkt. Es folgten Groß-Akquisitionen einzelner spezialisierter Unternehmen in den USA, namentlich Dade Behring (2007 mit 7 Mrd. Euro)(14) und Dresser-Rand (2015 mit 7,5 Mrd. Euro) Allein in den Jahren 2005 bis 2010 wurden 20 Mrd. Euro für Akquisitionen aufgewendet, was der Hälfte der gesamten Erlöse aus Desinvestitionen der letzten 25 Jahre gleichkommt.

Aufwand

Die jüngeren US-Großakquisitionen wurden mit einem Umsatzmultiple von 2,8 und deutlich größer getätigt. Die angelsächsischen Akquisitionen erreichten durchschnittlich das 2-Fache des Umsatzes, die kontinentaleuropäischen entsprachen etwa dem jeweiligen Umsatz. Daraus wird eine signifikante Überteuerung der US-Erwerbe erkennbar. So musste auf Dade Behring im Jahr nach der Integration eine erste Abschreibung von 1,1 Mrd. Euro gemacht werden. Die Vorgabe, dass Akquisitionen innerhalb von drei Jahre „cash-positiv“ sein sollen, wird von den Großübernahmen beträchtlich verfehlt. Die Summe aller deutschen Erwerbungen beträgt gut 10 Mrd. Euro, was in etwa 1/4 des gesamten Akquisitionsaufwandes von Siemens entspricht.

Der hinzuerworbene, sogenannte "externe" Umsatz macht rund 60 % des durchschnittlichen Siemens-Jahresumsatz (25 Jahre) aus. Die Beschäftigtenzahl aus Erwerbungen liegt in etwa bei dem gleichen Prozentsatz. Die Ausgaben für Käufe liegen bei rund 49 Mrd. Euro und sind damit um 20 % höher als alle Erlöse aus Desinvestitionen. Kurz: ein bemerkenswertes Missverhältnis.

Beobachtungen zu Transaktionen

Wechselnde Logiken

Mit dem gewachsenen Einfluss der Strategieplanung hielten Überlegungen der Profit Impact of Market Strategies Methodik (PIMS)(15) Einzug, nach denen vor allem der Marktanteil (und auch Produktqualität) positiv, Kapitalintensität dagegen negativ mit dem Ergebnis korreliert ist. Das führte zur Klassifizierung in Kern- und Randgeschäfte; letztere wurden schließlich zu Verkaufskandidaten.

Die hervorstechendste Konsequenz war die Trennung von den kapitalintensiven Komponentenbereichen mit einem Umsatzvolumen von rund 16 Mrd. Euro. Der zweite strategische Imperativ zielte auf die consumer-/nutzernahen Massengeschäfte. In Umkehrung zur bis zuletzt sehr optimistischen Einschätzung wurde die Handysparte zum Verkauf gestellt, dann das PC- und Telefon-Endgerätegeschäft. Osram und BSH wurden wegen ihrer stabilen Ergebnisbeiträge noch gehalten.

Das Geschäftswertbeitrag (GWB(17) )-Konzept, die Ausprägung des Shareholder Value-(SHV) Ansatzes, das Siemens im deutschsprachigen Raum pilotierte, zielte auf eine verbesserte Nutzung aller Assets, eine Stabilisierung des Cash-Flows vor allem durch ein größeres Service-/ Wartungsgeschäft. Im Kern ging es um die Anbindung der einzelnen Geschäftseinheiten an den Kapitalmarkt verbunden mit einem vorteilhaften Incentivierungs-System für das Management.(18) Die Folgerungen aus dem SHV-Ansatz waren vor allem in der „Nach-Pierer“-Ära maßgeblich.

In der „Kleinfeld“-Phase von zweieinhalb Jahren ging es um die rasche Bereinigung von Verlustbringern, somit der gesamten Kommunikationstechnik, die ohne Begründung nicht mehr zu den Kerntechnologien von Siemens gezählt wurde. Gleichzeitig sollten die neuen Geschäfte Labordiagnostik und "Wasser" aufgebaut werden, in denen Siemens zum weltweit führenden Player heranwachsen wollte, indem fragmentierte Branchen konsolidiert, Synergien mit Siemens Medizintechnik und Anlagenbau geschaffen und Scale-Effekte durch die internationale Siemens-Präsenz realisiert werden sollten. Das strategische Parallelogramm war von den Megatrends (demografischer Wandel, Urbanisierung, Klimawandel und Globalisierung) bestimmt. In dieser Phase hatten Strategieüberlegungen eine besonders große Bedeutung.(19)

Die „Löscher“-Phase (2007-2013) war im Wesentlichen die Fortsetzung dieser strategischen Linie. Den Anfang machte die vom Vorgänger eingeleitete Akquisition von Dade Behring, mit der Siemens das erste integrierte Medizin-Diagnostik-Unternehmen werden sollte, obwohl Labor- und Bilddiagnostik sehr verschieden sind.(20) Ein neuer Akzent wurde mit der verstärkten Hinwendung zu ökologischer Nachhaltigkeit gesetzt, konkret mit dem Aufbau des Solar- und Windenergiegeschäfts. Siemens sollte sich zum größten „Grünen Infrastruktur-Konzern“ wandeln und so ein Alleinstellungsmerkmal besitzen und einen Imagevorteil erhalten.(21) Die Ergebnisse im Solargeschäft erwiesen sich als Flop.

In der nunmehr zweijährigen Phase „Kaeser“ steht die breite Stabilisierung des Unternehmensergebnisses im Mittelpunkt: durch die Konzentration auf langlebige Produkte(22), einen höheren Anteil des Wartungsgeschäfts und den Ausbau starker Positionen in kaptiven, hochkonzentrierten Märkten. Das ist aber nicht mehr als strategisches Standardrepertoire, jedenfalls weit entfernt von innovativen, unternehmerischen Impulsen. Die Medizintechnik wird aufgrund ihrer Eigenheiten und aus Überlegungen zur Steigerung des Unternehmenswertes verselbstständigt.

Auslöser

Die Auslöser von Käufen wurden schon vielfach abgehandelt: billiges Geld, hohe Liquidität, günstige Kursstände, aber auch Herdentrieb und der Drang zu Vermachtung, um später Übergewinne kassieren zu können. Bekannt ist, dass günstige Finanzierungsbedingungen bei gleichzeitigen Börsenhaussen Einkaufswellen anstoßen; ein frühes Beispiel ist die Conglomerization in den 1960er Jahren in den USA. Nicht selten stellt sich im Zusammenhang mit neuen Bewertungsansätzen und in Nachahmung von Signal Companies ein kollektives Verhalten ein; prominente Beispiele sind die Konzerne ITT, GE, ABB, Tyco, die sowohl imitierten als auch nachgeahmt wurden, so GE von ABB und Daimler, auch zum Teil von Siemens. Nicht mehr die Ausnahme wurde der von außen geholte oder junge, forsche CEO, der einen "fast impact" verspricht. Am schnellsten und auffallendsten ist dies über Transaktionen - und im Falle von Siemens auffallend häufig mit Umorganisationen zu erreichen. Dazu eine diesbezügliche Äußerung, vorschnelle Erfolgsmeldung von Klaus Kleinfeld aus dem Jahr 2006 : "30 % unseres Geschäftsvolumens neu strukturiert", als ob das schon einen Erfolg darstellte.

Im Folgenden wird auf einige auslösende Elemente eingegangen, die insbesondere bei Siemens ausschlaggebend waren.

1. Portfolio-Management und Shareholder Value als Anleitung

In Vorbereitung auf die Börseneinführung in den USA setzte der damalige CFO und spätere Aufsichtsratsvorsitzende Karl-Hermann Baumann den Shareholder Value-Ansatz (SHV) in der Stern & Stewart-Ausprägung durch. Es ging darum, die Analysten von der nunmehrigen (Börsen-) Wertsteigerungsstrategie zu überzeugen, indem man sich nach dem Diktum des damaligen Referenz-CEOs von GE, Jack Welch ("Fix, close or sell") richtete. Ähnlich wie bei GE wurden die Bereichsergebnisse transparent gemacht, Ergebnisbänder eingeführt, ein am GWB (Geschäftswertbeitrag) ausgerichtetes Incentive-System eingeführt, die Umstellung auf amerikanische Rechnungslegung US-GAAP vorgenommen und nicht zuletzt die Funktionen M&A zusammen mit Investor Relations beträchtlich aufgewertet.

Der SHV-Ansatz hatte nicht nur bei Siemens eine starke katalytische Wirkung in der Weise, dass Kurzfristigkeit immer mehr zur impliziten Handlungsweise wurde. Für Sanierung bzw. Neuausrichtung sank die Geduld zusehends, für Innovationsergebnisse ebenso. Die Modellvorstellung von einem Unternehmen war schließlich die einer hochtourigen, dauerbelastbaren "Gewinnmaschine".

2. Hoher Aufmerksamkeitswert

Transaktionen gehen in aller Regel rasch über die Bühne, erregen augenblicklich eine hohe Beachtung durch Medien, Kapitalmarkt, der Konkurrenz, zuweilen von Politik, eine länger wirkende bei den Betroffenen, den Mitarbeiter und den Arbeitnehmervertretern. Von Siemens sind ein paar denkwürdige Fälle in Erinnerung wie der missglückte Verkauf an BenQ oder die verlorene Schlacht um Alstom, die den CEO und Aufsichtsratsvorsitzenden sogar in den Élysée-Palast führten.

Über das Gelingen von Unternehmenskäufen herrscht in der Regel wenig Transparenz mit Ausnahme der wenigen geglückten Fälle(23) oder eben spektakulärer Fehlschläge.(24) Bei Flops, die sich wie bei faulen Krediten meistens erst nach einigen Jahren als solche herausstellen, werden gewöhnlich externe Einflüsse und überraschende, unvorhergesehene Ereignisse als Gründe angeführt. Das Eingeständnis, dass das Management bei der Integration versagt hat oder schon zu Beginn einer groben Fehleinschätzung aufsaß, bleibt die Ausnahme; ein solches Eingeständnis von Seiten der Siemens-Leitungen ist nicht bekannt.(25)
Im Unterschied zu Transaktionen brauchen Innovationen Geduld; sie sind häufig mit Rückschlägen versehen, die für Außenstehende schwer verstehbar sind, oft nicht spektakulär, weil sie im industriellen Bereich nicht den Consumer oder massenhaften User adressieren, und sie haben gewöhnlich "viele Väter", jedenfalls ein Team auf Arbeitsebene. Bei Transaktionen dagegen läuft alles auf den CEO zu, solange sich kein Misserfolg abzeichnet.

3. Diversifizierte Konzerne - Kandidaten für Verkäufe und Abspaltungen

Diversifizierte Konzerne wie GE und Siemens waren frühe Kandidaten für das von der Harvard Business School stammende Portfolio-Konzept(26), das von deren Absolventen von den Strategieberatungen Boston Consulting Group (BCG) und McKinsey verkauft wurde. Die Portfolio-Klassifizierung basierte auf einer Cashflow-Optimierung, die eine Aussonderung von "Dogs" (ertragsschwache Geschäfte) und eine Stärkung der "Stars" mittels rascher Marktanteilszugewinne durch Akquisitionen empfahl. Als Kernaufgabe der Unternehmensführung wurde in Analogie zum Portfolio-Management im Finanzsektor das geschickte Cash-Balancing ausgegeben, das in Übereinstimmung mit dem Principal-Agent-Verhältnis nach einer erfolgsabhängigen Honorierung verlangt. Später wurde im Zuge des Shareholder-Value-Konzepts die Trennung von renditeschwachen Assets und damit Unternehmensteilen nahegelegt. Die Bevorzugung von Transaktionen anstelle von Sanierung/Neupositionierung und Innovation passte zum Kurzfrist-Denken des Kapitalmarktes.

Weitestgehend bewahrheitet hat sich, dass es diversifizierten und somit meist kennzahlengesteuerten Großunternehmen nicht gelingt, die allseits reklamierten Synergien zu schaffen und innovativ zu sein. Darum ist es verständlich, dass früher oder später angebliche Synergien gekauft werden, wie aus der Begründung vieler Akquisitionen hervorgeht.

Im Falle von Siemens war eine Ent-Diversifizierung des Portfolios bzw. Vereinfachung der Geschäftsstruktur geboten, weil der Konzern eine nicht mehr beherrschbare Komplexität erreicht hatte.(27) Die spätere, vorteilhafte Entwicklung einiger Carve-outs bestätigt die Erfahrung, dass Stand-alone-Geschäfte in der Regel einen höheren Grad an Innovation und Unternehmertum erreichen, ein eigenständiges Profil entwickeln und fortan wieder stärker wachsen. Deshalb waren Abspaltungen/Verselbständigungen von Infineon und Osram gelungene Wege, durch die die Dax-Landschaft bereichert wurde. Die Möglichkeit von Verselbständigungen und auch interner Dezentralisierung wurden erst spät erkannt, im Kommunikationsgeschäft fatal zu spät.(28) Spätestens im Jahr 2015 hat Siemens aber einen Zuschnitt erreicht, bei dem eine Führung mit der Ausrichtung auf Innovation und Synergien in Elektrifizierung, Automatisierung und Digitalisierung möglich und überfällig ist.(29)

4. Zusammensetzung des Vorstands ist wichtig.

Nach allen Beobachtungen macht es einen Unterschied, ob Unternehmen von MBAs (als Synonym für eine finanzielle Steuerung) geleitet werden oder von "Technikern" (als Synonym für eine innovative, wertschöpfungsorientierte Führung). Verkürzt gesagt, haben MBAs eine "systemische" Präferenz für Transaktionen, während "Techniker" - wenn überhaupt punktuell zu Käufen neigen und sich stärker um die Sanierung schwieriger Geschäften bemühen.(30) Dafür lassen sich viele Beispiele anführen; bei Siemens Kleinfeld, Löscher, Kaeser.(31) Dass machtbewusste CEOs - unabhängig ob MBA oder Techniker - Unternehmen in unstabile Größenordnungen führen, zeigten Piech und Schrempp. Nicht nur diese Fälle lassen auf eine, trotz der fast flächendeckenden Kodex-Entsprechungen erstaunlich inkonsequente Corporate Governance schließen.

Ein eindeutiges Indiz für eine "transaktionistische" Unternehmensführung ist die Größe der mit Akquisitionen und Desinvestitionen befassten Abteilungen eines Unternehmens. Seit Jahren entfallen bei Siemens auf M&A mehr als 50 Personen (davon 10 auf das Post-Closing), das Dreifache von vor 10 Jahren.

5. Investmentbanker, Strategieberater als hochengagierte "Mitmacher/-verdiener"

Die meist amerikanischen Strategieberater, Investmentbanker und Rechtsanwaltskanzleien sind diejenigen, die unablässig mögliche Deals als ausgesprochen lukratives Geschäft betreiben. Herausragender Exponent dieser Gattung war Alexander Dibelius (früher McKinsey-Partner und danach lange Zeit "Rainmaker" von Goldman Sachs), der so namhafte Deals (und Flops) wie Daimler-Chrysler einfädelte und an zahlreichen anderen Fusionen (Allianz-Dresdner/COBA) beteiligt war.(32) Deals sind eine wichtige Einkommenssäule vieler Investmentbanken. Große Deals bringen ein Honorarvolumen von 50 und mehr Millionen Euro. Die Kurzfristigkeit, die Jagd nach dem raschen Deal ist allgegenwärtig, zumal sie stark incentiviert und die Unternehmensspitze überproportional daran partizipiert.

Lehren

In Managementkreisen und an Business Schools wird unablässig die Notwendigkeit betont, aus Erfahrung zu lernen (Stichwort Lessons learnt). Und dennoch frappiert, wie stark modische Praxis die eigenen und die Erfahrungen anderer übergeht. An dieser Stelle sollen nur einige Praxisregeln in Erinnerung gerufen werden.

Erstens: Sich über die eigene Einstellung klar sein.

Handeln wir grundsätzlich und im spezifischen Fall unternehmerisch (sprich innengeleitet) oder sind wir kapitalmarktfixiert und medienaffin (sprich außengeleitet)? Daran schließt sich die Frage: Was machen und können wir besser: Transaktionen oder Innovationen/laufende Verbesserungen?
Bei einer Präferenz für Transaktionen müssen sich die Verantwortlichen der historischen Wahrheit stellen, dass alle großen, mit hohem Fremdanteil (nicht eigenfinanzierte) diversifizierten Unternehmen (v.a. konglomerate Unternehmen) sich mittelfristig-langfristig wieder auflösten oder gar zusammenbrachen.(33) Die Misserfolgs-Quote von 70 bis 80 % ist seit Langem Allgemeinwissen, wiewohl Differenzierungen angebracht sind.

Gefährdet sind immer Unternehmensakquisitionen, die nicht originär geschäftlichen Überlegungen folgen, wie die eingangs erwähnte Steuervermeidungstaktik von Pfizer. Am ehesten "funktionieren" Akquisitionen, bei denen die Größen der beteiligten Einheiten nicht allzu weit auseinanderliegen, auch nicht gleich groß sind, sich sinnvoll ergänzen und damit für beide Teile von Nutzen sind und deren kulturelles Substrat ähnlich ist. Letzteres trifft im Besonderen auf die vielen Übernahmen im Bereich der Startups zu.(34) Festzuhalten ist, dass eine ausgeprägte Neigung zu Transaktionen immer ein nicht zu unterschätzendes Unternehmensrisiko bedeutet.

Zweitens: Auf die eigene Kraft der Erneuerung bauen.

Voraussetzung dafür ist primär eine unternehmerisch eingestellte Unternehmensführung, die ein profundes Geschäftsverständnis und operative Erfahrung hat, beständig auf Innovation und Verbesserungen hinarbeitet und die Mannschaft hinter sich weiß. Unverzichtbar ist das hausinterne Heranziehen des unternehmerischen Nachwuchses, der zukünftigen Driver, und die ständige Pflege von ausreichend Enablern, also von Fachleuten, die Innovationen erst möglich machen. Eine zentralistische, "stringente“ (Siemens) Führung erlaubt nicht die für eine ständige Verjüngung per Innovation notwendige Entfaltung unternehmerischer Talente bzw. Initiativen. Ein Klima mangelnder Offenheit, gar von Angst, ist eine hohe Hürde, die sich nicht durch beschwichtigende oder aufmunternde Worte wegschieben lässt.

Wenn es um Innovation geht - und daraus entstehen die Fundamente zukünftiger Geschäfte, sind zur Ergänzung und Erweiterung der eigenen Fähigkeiten Kooperationen sowohl mit jungen als auch größeren Unternehmen, die ein partnerschaftliches Zusammenarbeiten gewohnt sind, wichtig. Siemens stand früher im Ruf, ein verlässlicher, fairer Partner zu sein. Es gilt wieder daran anzuknüpfen, indem die im letzten Jahrzehnt auf Effizienz und Compliance angelegten, entpersönlichten und bürokratischen Prozesse und Strukturen vor allem im Umgang mit Innovationsträgern neu konzipiert werden. Anregungen dazu sind bei innovativen Großunternehmen abzuholen, beispielsweise bei Samsung.

Verzichtet werden muss auf eine überdimensionierte M&A-Abteilung, die aus Eigeninteresse das Transaktionsrad ständig dreht. Entbehrlich, zumindest einzuschränken sind das dauernde Reden mit Investment-Bankern und das ständige Hinzuziehen von Strategieberatern.(35) Ist es nicht widersinnig, wenn sich eine Unternehmensleitung als hochkompetent, umsichtig und verantwortungsbewusst ausgibt, bei ihrem ureigenen Auftrag aber der dauernden, kostspieligen Hilfe Externer bedarf, die eine eigene Agenda mitbringen, extrem honorarorientiert und daraufhin incentiviert sind ?

Die skizzierte Abkehr von zeitgeistigen Managementpraktiken ist für die Mitarbeiter motivierend, spart viel (Lehr)-geld und lenkt die Aufmerksamkeit des Managements dorthin, wo sie hingehört: zu den eigenen Fähigkeiten und zur Motivation der Belegschaft. Das ist die gute Tradition langlebiger Unternehmen. CEOs und ihre Vorstandskollegen tun gut daran, die Geschichte ihres Unternehmens zu kennen und die von Firmen anderer Länder kennenzulernen.

Drittens: Aufsichtsrat muss eine Transaktions-Linie festlegen.

Auch der Aufsichtsrat sollte unternehmerischen Geist besitzen, ein gutes Technikverständnis mitbringen(36) und zuerst dem Unternehmen, nicht einzelnen Stakeholder-Gruppierungen, verpflichtet sein. Ein solch befähigter Aufsichtsrat sollte eine unternehmerische Generallinie vorgeben und nicht einfach wie es Usus ist den Vorstellungen des CEOs/Vorstandes folgen.(37) Dazu kann gehören, dass bei größeren Desinvestitionen Börsengänge angepeilt werden und singuläre Geschäfte, das sind solche, die keine/wenig ausbaufähige Gemeinsamkeiten mit anderen Geschäften haben, separat gemanaged oder verkauft werden. Bei Akquisitionen sollten nur Wertschöpfungsketten ergänzende Geschäfte/Unternehmen in Frage kommen und nicht völlig neue (Technologie, Märkte/Kunden) Geschäfte, wie es beim „Water Business“ und auch bei der Labordiagnostik der Fall war.

Einer grundlegenden Erfahrung folgend sollten nur CEOs berufen werden, die wertschöpfungsorientiert, innovativ veranlagt sind und darin Gespür gezeigt und eine gute Hand bewiesen haben. Das bedeutet, nicht mehr so sehr auf die Parkettfähigkeit des CEO auf dem Kapitalmarkt zu schauen, als vielmehr auf seine Eignung als Servant Leader im Dienste von Innovation und Mitarbeitern zu achten.

Fazit

Um ein Bild aus der Gartenpflege aufzunehmen: Unternehmen sind wie Gärten zu hegen und zu pflegen. Das erfordert regelmäßige Düngung mit Innovationen, aber auch Rückschnitte von verdorrten und wilden Trieben, das "Aufpropfen" von neuen, jungen Trieben, die von gesunden Gehölzen stammen(38), keinesfalls ein ständiges Umpflanzen und Über- und Unterdüngen. Unternehmen, die das modische Label „Nachhaltigkeit“ sich zu eigen machen, müssen selbst dem Anspruch der Kultivierung gerecht werden.(39) Das ist kein einfaches Problem, wenn man an die konfliktären Ziele denkt: ständige Gewinnsteigerung, stetes Wachstum, stabile Beschäftigung, permanente Erneuerung/ Innovation. Die Auflösung dieses "magischen Vierecks"(40) kann allenfalls nur in einer Richtung gelingen: Erneuerungsfähigkeit, die Innovation im umfassenden Sinne als Ausgangspunkt, Daueranliegen und Endziel. Dann folgen die anderen Ziele.

Zurück zu Siemens:

Die Gegenüberstellung von Desinvestitionen und Akquisitionen ergibt ein bedenkliches Bild, vor allem seit 10 Jahren: überteuerte Akquisitionen mit geringem Folgewachstum und unerwarteten Abschreibungen(41), Abspaltungen und als strategische Exits deklarierte "Sanierungsverkäufe" in einem bis dato schwer vorstellbarem Umfang; das Alles bei hohen “Leitungskosten“, einem großen Transaktionsapparat und hohem externen und internen Consulting-Aufwand.

Kurz: Die Performance ist enttäuschend . Und das angesichts einer Innovationsschwäche, die zu einem großen Teil auf ein Zuviel an Transaktion und Umorganisieren verwendetes Managen zurückzuführen ist. Nostalgisch mutet ein Leitsatz aus dem Jahr 1992 an, nach dem Siemens selbstbewusst „Schrittmacher des technischen Fortschritts“ sein wollte. Allein der Entwicklungsaufwand von damals 11 % vom Umsatz, dem Doppelten von heute, machte den Anspruch glaubwürdig.

Positiv zu werten sind die Verselbständigungen, insbesondere des Halbleitergeschäftes und von Osram und nun des Health Care-Bereiches; sie zeigen, dass die Einbindung relativ untypischer Geschäfte in einen Großkonzern nicht vorteilhaft ist, weil es zu häufig zu Interventionen der Zentrale kommt, die Komplexität und Gleichschaltung zur Folge haben. Das bedeutet wiederum, dass Dezentralisierung und unternehmerische Freiräume unverzichtbare Voraussetzungen für Entfaltung sind; eine Einsicht konträr zum manageristischen Mainstream, aber eine, die fast immer gültig ist.

Unternehmen, die auf Innovation setzen, sind unternehmerisch und dynamisch; solche die vorwiegend auf Transaktion setzen, sind manageristisch und langfristig fragil. Im Falle von Siemens ist es höchste Zeit, Innovation und Mitarbeiterbindung - Tugenden aus guten und schweren Zeiten des Unternehmens - wieder aufleben zu lassen.

Der Autor dankt Armin Sorg für wertvolle Hinweise

 

 

ANMERKUNGEN

(1) Die bis heute teuerste Übernahme der Welt war die von Mannesmann für 190 Mrd. Euro durch Vodafone.
(2) Als "inversion" bezeichnet: Eine US-Firma übernimmt ein ausländisches Unternehmen, verlagert sein Headquarter und firmiert fortan als US-Tax-exempt company.
(3) Allergan ist die vierte Großakquisition neben einer Reihe kleinerer Übernahmen innerhalb von 15 Jahren; eine große für jeden der letzten vier CEOs.
(4) Nach Einschätzung von Gary Pisano, Harvard Business School, waren die meisten "Big-Pharma-Akquisitionen "wertvernichtend.
(5) An diesem informellen Gefecht beteiligte sich die Sulzer AG, als deren Verwaltungsratspräsident Peter Löscher fungiert.
(6) Umsatzmultiple ist das Verhältnis der Marktkapitalisierung eines Unternehmens zu dessen Jahresumsatz.
(7) Kommentar von J. Kaeser zum Verkauf von Gigaset an den Finanzinvestor Arques, der kurz danach zu großer Missstimmung und zu juristischen Querelen führte: "Arques steht für eine verlässliche Gesamtstrategie, die auf Wachstum durch Innovation ausgerichtet ist."
(8) EC: Barverkauf, PR: Einbringung in Joint Venture mit Matsushita und spätere Veräußerung, HL: Verselbständigung als Infineon AG, Börsengang 2001 und sukzessiver Anteilsverkauf.
(9) Zu der Entwicklung des Kommunikationsgeschäftes, insbesondere NSN, siehe Denkschrift Nr. 7
(10) Zuteilung von einer Osram Aktie je 10 Siemens-Aktien.19,5% werden noch von Siemens gehalten.
(11) Nach der Veräußerung kam es in vielen Fällen zu einem fortgesetzten starken Mitarbeiterabbau, insbesondere in den ehemaligen Kommunikationsgeschäften.
(12) Eine Einzelbewertung (Post-Merger-Analysis) im Sinne von "Lessons learnt" ist, soweit bekannt, nicht erfolgt.
(13) Die aktuelle Revitalisierung von Corporate Venturing muss vor dem Hintergrund bisheriger Erfahrungen kritisch beurteilt werden.
(14) Die Firma Dade Behring war das Ergebnis einer Abspaltung der Behring-Werke des Hoechst-Konzerns (später Aventis), der Fusion mit Dade International und mehrerer Akquisitionen von Diagnostik-Geschäften (v. a. Baxter, Dupont). Dade International war eine Beteiligung des Buyout-Spezialisten Bain Capital. Der CEO und CFO von Dade Behring, Jim Reid-Anderson, wurde Leiter der Diagnostik-Sparte, kurz danach von Siemens Health Care; er war ein halbes Jahr Vorstand der Siemens AG.
(15) Für Profit Impact of Market Strategies; ursprünglich eine GE-Analyse über die Ergebniseinflussgrößen von Geschäften, deren Erkenntnisse (No. 1 or No.2) unter Jack Welch bekanntlich rigoros angewandt wurden. Das Konzept/Modell wurde an die Harvard Business School übertragen und später vom American Strategic Planning Institute vermarktet. Siemens war Pilotanwender fast aller aus den USA durch Berater vermittelten Strategiekonzepte in Deutschland.
(16) CEO v. Pierer: "Siemens ist ein lebender Organismus." Zukäufe seien vor allem für den Internet-Bereich, in der Informations- und Kommunikationstechnik sowie im lukrativen Industriegeschäft geplant. Auch weitere Verkäufe wollte er nicht ausschließen. "Es ist möglich, dass wir kleinere Bereiche abgeben, in denen wir nicht genug Geld verdienen." (Spiegel Online vom 20.04.2000.)
(17) Economic Value Added (EVA)/GWB-Konzept von Stern Stewart & Co.: Messung der finanziellen Leis-tungsfähigkeit und des Marktwertes eines Unternehmens, zusätzlich Vergleich mit einer Peer-Group als Basis für die Management-Incentivierung.
(18) In vielen Fällen erhielten Manager bedeutende "Windfall profits" (Verdopplung der Vergütung), hatten aber keinen Abschlag bei "Underperformance" in Kuaf zu nehmen. In der Sprache des Portfolo-Mangements: High upside potential, no downside risk.
(19) Das lag vor allem am Werdegang von Klaus Kleinfeld, der in seiner Laufbahn größtenteils mit Strategiethemen befasst war. Siemens hatte bemerkenswert große Strategieabteilungen und damals die mit Abstand größte interne Management Consulting Gruppe in Europa.
(20) Auf eine zeitliche Abfolge ist hinzuweisen: GE übernahm 2004 das englische Diagnostik-Unternehmen Amersham von GE und integrierte es in deren Health Care Division. Peter Löscher war nach Hoechst zu Amersham gewechselt und rückte im Zuge der Übernahme in den Vorstand von GE auf. Nach dem Engagement beim US-Pharmahersteller Merck (2006-07) war Dade Behring seine erste Übernahme als CEO von Siemens.
(21) Aus diesem Grunde wurde analog zu GE ein Monitoring des "grünen" Umweltportfolios eingerichtet und das Thema „Sustainability“ imageträchtig herausgestellt.
(22) Der jüngste Anlauf (mit einer InnovationsAG), in kurzer Zeit eine hohe Zahl von Innovationen generieren zu wollen, steht in einem gewissen Widerspruch dazu.
(23) Bei Siemens das Sylvania-Lampen- und das Westinghouse-Turbinengeschäft.
(24) Bei großen Akquisitionen wird übereinstimmend eine hohe Misserfolg-Quote (um 70% bestätigt. Siehe Analysen dazu vor allem von den Strategieberatungen McKinsey und BCG. Ein Indiz für „gescheiterte“ Übernahmen durch Finanzinvestoren sind die häufigen Secondary oder gar Tertiary transactions/buy-outs(25) Der wiederholte Ruf nach einer neuen Fehlerkultur richtet sich an die Mitarbeiter, nicht an das Top-Managemen (26) Siehe Modigliani-Miller Theoreme im Zusammenhang von Verschuldungsgrad eines Unternehmens und dessen Kapitalkosten.
(27) Der Komplexität blieben Vorstand, Stäbe, Berater und sogar Gewerkschaften in hohem Maße zugeneigt. Das aufwändige Steuerungsinstrument UGG (Unternehmensgleichgewicht) war der beste Beweis dafür.
(28) Aktuelle Ausnahme ist der Medizinbereich (Siemens Health Care), für dessen Verselbständigung in "Zeitenwende bei Siemens" bereits im Januar 2013 plädiert wurde; siehe: Denkzettel Nr. 24
(29) Daraus folgt, dass die zentralen Strukturen zu vereinfachen und zu reduzieren sind, die Leitung weg von München zu den operativen Bereichen nach Erlangen zu verlegen wäre. Gegebenenfalls ist eine weitere Auftrennung in "Siemens Industrial" und "Siemens Energy" zu erwägen.
(30) Ein eindrucksvolles Beispiel dafür war die Übernahme und Neuausrichtung von Rover durch BMW
(31) Ein besonderer Fall war Jürgen Dormann, der erste Nicht-Chemiker als Vorstandsvorsitzender der Hoechst AG, nach dessen Abgang das einst bei weitem höchst-kapitalisierte IG Farben Nachfolgeunternehmen zerlegt war.
(32) Ein verwandter Fall ist Herbert Henzler, langjähriger Deutschlandchef von McKinsey und Förderer von Dibelius. Nach seinem Wechsel zu Credit Suisse agierte er als Chefberater mitunter auch als "Dealer“.
(33) Der Paradefall war der einst in der Managementwelt bewunderte Konzern ITT (siehe dazu Managerismus, Weilhein 2010, Seite 109.)
(34) Das und die Motivation zu einem schnellen Exit erklärt die geradezu hektische Übernahme-Rally in Silicon Valley.
(35) Im Falle von Siemens kam es häufig zu Kontakten zu vier bevorzugten Investmentbankern (davon drei ame-rikanische).
(36) Dieses Kriterium ist vielen deutschen Aufsichtsräten völlig unzureichend erfüllt; es überwiegen Juristen und Finanzleute (beim „Technologiekonzern“ Siemens von insgesamt 20 nur drei Technikvertraute auf der Arbeitgeberseite und nur gewerbliche und administrative Vertreter auf der Arbeitnehmerseite.
(37) Bei diesem Anlass zeigt sich die Deutschland-Orientierung der Paritätischen Mitbestimmung.
(38) Veredelungsmethode bei Pflanzen, wobei ein Edelreis auf einen Stamm gesteckt (gepfropft) wird.
(39) So für das Unternehmen Siemens, das sein Prime-Ranking in Sachen Nachhaltigkeit hervorhebt: "Auszeichnung mit Top-Noten in neun Kategorien im Dow Jones Sustainability Index. Unternehmen erzielt 90 von 100 möglichen Punkten"!
(40) in Anlehnung an das volkswirtschaftliche Dilemma gleichzeitiger Zielverfolgung: stabile Preise, hohe Beschäftigung, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und angemessenes und stetiges Wirtschaftswachstum.
(41) Siemens unterliegt in letzter Zeit verhängnisvollen Abschreibungszyklen in Folge von Compliance, zu hohem Administrationsaufwand, Problemen aus Großprojekten und Großakquisitionen. Das sind deutliche Indizien für Führungsprobleme.

 

Ergänzender Stoff zu Siemens unter www.managerismus.com

(in chronologischer Reihenfolge)

1. Innovationsschwäche bei Siemens – Wie Shareholder Value die Innovation verdrängte
2. Culture Change - Anspruch voller Widersprüche
3. Innovationsschwäche – Existenzielle Herausforderung der Großunternehmen
4. Nokia Siemens Networks (NSN) - Chronologie eines anhaltenden Führungsversagens
5. Die schwindende Rolle der Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) in Deutschland und der Ausstieg von Siemens: Gründe und Lehren".
6. RELECTURE 3: Innovationsstärke und Wettbewerbsfähigkeit
7. Siemens hat die Kraft zur Erneuerung
8. Zeitenwende bei Siemens - Manageristisch gesteuert oder unternehmerisch geführt?
9. Siemens - Eine "General Electric"-sierung bedeutet den Verlust der eigenen Identität.

 

Übersicht Transaktionen

Akquisitionen 1990-2015 (PDF)
Desinvestitionen 1990-2015 (PDF)